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Ev. Altstädter Nicolaikirchengemeinde Bielefeld
10. Orgelstudienfahrt Hamburg / Altes Land 20.‐22. April 1979 Leitung: Hans Uwe Hielscher
Hamburg St. Jacobi
Altenbruch
Cadenberge Otterndorf
Cappel
Stade Steinkirchen Neuenfelde HH-Stillhorn
Mitwirkende: Kunstgeschichtliche Führungen: Paul‐Hans Oehlmann Orgelvorführungen: Prof. Heinz Wunderlich (Hamburg St. Jacobi), KMD Günter Jena (Hamburg St. Michaelis), Luise Hansen (Stade) und Hans Uwe Hielscher
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Inhalt Fahrtverlauf ............................................................................................ 4 Die Kunstlandschaft zwischen Weser und Elbe ...................................... 5 Die Orgellandschaft zwischen Weser und Elbe ....................................... 9 Der Orgelbauer Rudolf von Beckerath ..................................................... 15 Die Orgelbaukunst aus europäischer Sicht ............................................. 17 Verdienst und Grenzen der deutschen Orgelbewegung ......................... 23 Die Klaviaturumfänge und ‐anordnungen historischer Orgeln ............... 26 Cappel (St.‐Peter‐und‐Paul‐Kirche) ......................................................... 28 Altenbruch (St.‐Nicolai‐Kirche) ............................................................... 32 Otterndorf (St.‐Severi‐Kirche) .................................................................. 36 Cadenberge (St.‐Nicolai‐Kirche) .............................................................. 40 Neuenfelde (St.‐Pankratius‐Kirche) ......................................................... 42 Arp Schnitger in Neuenfelde ................................................................... 47 Steinkirchen (St.‐Martin‐und‐Nikolaus‐Kirche) ....................................... 48 Stade (St.‐Wilhadi‐Kirche) ....................................................................... 53 Stade (St.‐Cosmae‐et‐Damiani‐Kirche) ................................................... 59 Hamburg (St.‐Marien‐Kirche) .................................................................. 66 Hamburg (St.‐Jacobi‐Kirche) ................................................................... 69 Hamburg (St.‐Michaelis‐Kirche) .............................................................. 83 Fachworterklärungen .............................................................................. 104 Literaturnachweis ................................................................................... 108 Teilnehmerliste ....................................................................................... 110
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Fahrtverlauf
Freitag, 20. April 1979 08:00 Uhr: 12:30 Uhr: 14:00 Uhr: 15:30 Uhr: 17:00 Uhr: 21:00 Uhr:
Abfahrt ab Bielefeld, Altstädter Nicolaikirche Cappel Altenbruch Otterndorf Cadenberge Hamburg‐Stillhorn, Motel Stillhorn
Samstag, 21. April 1979 08:30 Uhr: 09:00 Uhr: 10:30 Uhr: 12:30 Uhr: 14.00 Uhr: 15:00 Uhr: 16:30 Uhr: 18:00 Uhr: 18:30 Uhr: 19:30 Uhr: 23:00 Uhr:
Abfahrt in Hamburg‐Stillhorn Hamburg Gruppe 1: Besichtigung der Orgelbauwerkstatt Beckerath Gruppe 2: Kath. Pfarrkirche St. Marien Gruppe 2: Besichtigung der Orgelbauwerkstatt Beckerath Gruppe 1: Kath. Pfarrkirche St. Marien Mittagspause Abfahrt ab Hamburg Hamburg‐Neuenfelde Steinkirchen Stade (St. Wilhadi) Stade (St. Cosmae) Stade (Abendessen) Hamburg‐Stillhorn, Motel
Sonntag, 22. April 1979 09:00 Uhr: 09:30 Uhr: 11:30 Uhr: 13:00 Uhr: 14:30 Uhr: 20:00 Uhr:
Abfahrt in Hamburg‐Stillhorn Hamburg Gottesdienstbesuch in einer der Hauptkirchen oder Zeit zur freien Verfügung Hamburg (St. Jacobi) Hamburg (St. Michaelis) Abfahrt in Hamburg Rückkehr in Bielefeld
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Paul‐Hans Oehlmann
Die Kunstlandschaft zwischen Weser und Elbe ____________________________________________________________ Wir werden auf dieser Orgelreise keinen Bauwerken von solch einzigartigem Rang wie bei unserer Paris‐Fahrt begegnen, ebenso wenig wie Stätten mit der historischen Bedeutung Corveys. Wir fahren diesmal – mit Ausnahme Hamburgs natürlich – in die Provinz. Das sollten wir allerdings nicht abwertend verstehen. Wir werden vielmehr Gelegenheit finden, wieder einmal die Vielfalt und den Farbenreichtum einer deutschen Kunstlandschaft zu erleben, deren Schönheit nur wenig bekannt ist. „Orgel‐Landfahrer“ der ersten Stunde werden Vergleiche mit Ostfriesland ziehen und dabei manche Ähnlichkeit im Charakter von Landschaft und Bauarchitektur entdecken. Ebenso werden uns aber auch bald erheb‐ liche Unterschiede bewusst werden. Sprechen wir von Ostfriesland, so ist damit ein ganz bestimmtes Gebiet umschrieben, mit einer Bevölkerung von einheitlicher stammesmäßiger und sprachlicher Ausprägung. Die Baukunst Ostfrieslands ist weitgehend durch Werke des Mittelalters in wenigen signifikan‐ ten Typen geprägt. Ganz anders ist nun unsere Situation, wenn wir versuchen, die Kunst‐ landschaft zwischen Weser‐ und Elbmündung zu beschreiben. Es fällt sogleich auf, dass es keine griffige Bezeichnung für diese Landschaft gibt, und es wird uns bewusst, dass wir es hier nicht mit einer ethnologisch und geschichtlich eigenständigen, deutlich umgrenzten Region zu tun haben. Sie ist allenfalls als ein nördlicher Teil Niedersachsens anzusehen. Das Gebiet ist gegen die Friesen nach Westen durch die Weser und nach Norden durch die Elbe abgegrenzt. Einzelne Landstriche sind z. T. nach den alten „Herrschaften“ benannt: an der Wesermündung das Land Wursten, an der Spitze zwischen Elbe und Weser das Land Hadeln, daran elbaufwärts anschließend das Land Kehdingen und stromaufwärts von Stade das Alte Land. All diesen einzelnen Landschaften war im Mittelalter eines in schöner Eintracht gemeinsam: die Auflehnung gegen die Herrschaft der Erzbischöfe von Bremen. Das Alte Land (der Elbmarschstreifen zwischen Harburg und Stade) verdient unsere beson‐ dere Aufmerksamkeit, weil dieses relativ kleine Gebiet sich in einer unverwechselbaren Schönheit darbietet. Zu Beginn des 13. Jahrhunderts wurden holländische Siedler hierher gerufen, die als er‐ fahrene Deichbauer das Land vor den ständigen Überflutungen schützten. Mit Hilfe von Sieltoren wird der ganze Marschstreifen durch ein Kapillarsystem von Gräben und Kanälen im Rhythmus der Gezeiten „beatmet“. Die sich dabei absetzenden Sinkstoffe verleihen dem Boden eine außerordentliche Fruchtbarkeit. So ist hier ein Obstanbaugebiet entstan‐ den, das heute 25% der gesamten deutschen Obsternte liefert. Der Wohlstand dieses Landstriches drückt sich in prächtigen Fachwerkhäusern mit überkragenden Geschossen aus, den sogenannten „Kübbungshäusern.“ Das Fachwerk ist weiß gestrichen, die weiß verfugte Ziegelausfachung zeigt fantasievolle Zierverbände, den sogenannten „Kreuzelstich“. An der Giebelseite führt die reich verzierte „Brauttüre“ in das Haus. Weniger einladend zeigen sich die „Nottüren“, die nur von innen zu öffnen sind. Die Höfe stellen oft geschlos‐
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sene Anlagen dar, mit hölzernen Prunktoren, als deren Zier sich häufig Löwenköpfe oder Pinien‐ zapfen finden. Man muss diese Zeugen einer stolzen Bauernkultur mit leiser Wehmut betrachten, wenn man in ihrer unmittelbaren Nachbar‐ schaft die genormte Hässlichkeit des bundesdeutschen Einheits‐ Bungalows emporwachsen sieht. Dem dank der chemischen Indu‐ strie zu unerwartetem Wohl‐ Fachwerkhaus im Alten Land stand gekommenen Obstprodu‐ zenten wird das Haus seiner Väter zu unbequem, man richtet sich „modern“ ein, und wir dürfen sicher sein, dass unseren Enkeln eine Fahrt durch das Alte Land nicht mehr das gleiche ästhetische Vergnügen bereiten wird wie uns. Eine Mittelpunktrolle für die ganze Region spielt die Stadt Stade. An der Mündung der Schwinge in die Elbe gelegen, wuchs die Stadt aus mehreren, schon z. T. im 9. Jahrhundert gegründeten Siedlungszellen zu einem bedeutenden Handelszentrum zusammen, das in der Mitte des 14. Jahrhunderts als eine der ersten Städte der Hanse beitrat und dort zunächst einen weit bedeutenderen Platz innehatte als Hamburg. Erst durch eine Verlage‐ rung des Elbstroms wurde Stade allmählich zur Landstadt und musste seine Vorherrschaft an Hamburg abgeben. Mit dem Westfälischen Frieden, in dem die Mündungsgebiete der großen deutschen Ströme an Schweden fielen, gewinnt Stade noch einmal an Bedeutung als Hauptstadt der schwedischen Herzogtümer Verden und Bremen. Sie wird zu einer star‐ ken Festung ausgebaut, deren Spuren noch deutlich im Stadtgrundriss zu erkennen sind. Aus dieser Zeit, in der nach einem Stadtbrand 1659 ein großer Teil der Gebäude neu errich‐ tet wurde, sind noch zahlreiche Bauwerke, insbesondere in eindrucksvoller Geschlossenheit am alten Hafen, erhalten geblieben. Wenden wir uns nun den mittelalterlichen Kirchenbauten der ländlichen Bezirke zu. Zunächst stellen wir fest, dass auch hier die traditionellen Baustoffe des Nordseeküsten‐ raumes verwendet wurden: Bei den frühesten erhaltenen Bauten aus dem späten 12. Jahrhundert ist es der am Ort vorgefundene Granitstein (Altenbruch), der jedoch nicht wie im östlichen Teil Ostfrieslands zu exakt behauenen Quadern von großer Monumentalität, sondern zu einem unregelmäßig, aber lagerhaft vermauerten Gefüge mit breiten Kalk‐ fugen verarbeitet ist. Daneben finden sich, wie entlang der ganzen niederländischen und deutschen Nordseeküste, auch hier noch Relikte des Andernacher Tuffsteines, der mit Schiffen den Rhein herab transportiert wurde. Im Wesermündungsgebiet begegnen wir ebenfalls aus dem späten 12. und frühen 13. Jahrhundert den flussabwärts transportier‐ ten Porta‐Sandstein (Wremen bei Cappel), der zu regelmäßigen Quadern verarbeitet ist.
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Als wesentliches Baumaterial weist sich jedoch seit Ende des 13. Jahrhunderts der Ziegelstein aus, der das Bild der Architektur in der ganzen Küstenregion weitgehend bestimmt. Während die wesentlichen Kirchenbauten Ostfrieslands bis zum 15. Jahrhun‐ dert entstehen und dann eine Stagnation eintritt, ist in unserem Gebiet eine ununter‐ brochene Entwicklung bis in die Barockzeit zu beobachten. Abgängige Kirchenbauten werden, besonders in der Barockzeit, erneuert, es finden fortlaufend Veränderungen statt und, was von höchster Bedeutung für das Erscheinungsbild der heutigen Kirchen ist, die Ausstattung bestehender mittelalterlicher Räume erfährt in der Barockzeit eine unge‐ heuer reiche Entfaltung. In Otterndorf und Altenbruch begegnen wir zwei Kirchenräumen, die – neben Lüding‐ worth – in reicher Mannigfaltigkeit wohl am deutlichsten den Wohlstand des alten Bauernlandes widerspiegeln. Der Grund für diese Entwicklung ist in erster Linie darin zu sehen, dass die wirtschaftliche Kraft dieses Gebietes auch über das Mittelalter hinaus – im Gegensatz zu Ostfriesland – erhalten geblieben ist. Wahrscheinlich hat das Aufblühen des Handelszentrums Hamburg eine starke wirtschaftliche Belebung für das bäuerliche Umland bewirkt. Dieser Einfluss des städtischen Zentrums auf die Provinz vollzieht sich jedoch keineswegs nur auf wirtschaftlichem Gebiet: Die Bedeutung Hamburgs als Zentrum der Kunst und des Kunsthandwerks (beides war im Mittelalter ja kaum voneinander getrennt) darf nicht übersehen werden. Es ist zunächst festzuhalten, dass sich im 14. Jahrhundert eine Verlagerung der Intentionen künstlerischer Tätigkeit vollzogen hat: Die Bedeutung der Bauhütten, denen die Baukunst des Mittelalters ihren reichen figürlichen Schmuck zu verdanken hat, zerfällt. An ihre Stelle treten die in Zünften zusammengeschlossenen Maler, Bildschnitzer und Bronzegießer. Der Schmuck der Kirche verlagert sich (ganz allgemein, aber besonders hier in diesem Gebiet, das kein bildhauerisch verarbeitbares Gestein anbietet) von der in die Architektur einge‐ bundenen Skulptur auf das frei aufgestellte, geschnitzte und auf das gemalte Bildwerk. Diese Entwicklung ist in Hamburg gekennzeichnet durch Künstlerpersönlichkeiten wie die des Maler‐Mönches Meister Franke oder des Meisters Bertram. Das Triptychon mit ge‐ schnitztem Mittelfeld und gemalten Außenflügeln wird zum bestimmenden Kunstobjekt für das 14. und 15. Jahrhundert. Wir begegnen solchen Kunstwerken insbesondere in der St. Jacobi‐Kirche in Hamburg. Meister Bertram von Minden schuf 1383 den Altar für Hamburgs älteste Kirche, St. Petri, die ihn 1902 an die Hamburger Kunsthalle verkaufte.
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Die Ausstrahlungskraft des Kunstzentrums Hamburg beschränkt sich keineswegs auf die Arbeit hochrangiger Maler und Bildschnitzer, auch Kunsttischler und andere Kunsthand‐ werker (nicht zuletzt Orgelbauer) haben bis in die Barockzeit hinein in weitem Umkreis die schmückende Ausstattung der Kirchen betrieben. Es ist sicher ein ungewöhnlicher Ansatz für eine Betrachtung der Stadt, die wir heute als ein pulsierendes Welthandelszentrum zu sehen gewohnt sind, wenn man den Versuch unternimmt, sie als ein blühendes Kunstzentrum des Mittelalters zu zeichnen. Das ist bei anderen bedeutenden Hafenstädten wie Antwerpen oder auch Bremen leichter möglich, weil ein bedeutend reicherer Fundus an erhaltener mittelalterlicher Architektur die Fantasie stärker beflügelt. In Hamburg werden an die Vorstellungskraft unüberwindliche Anfor‐ derungen gestellt, denn gerade drei mittelalterliche Kirchen (St. Petri, St. Katharinen und St. Jacobi) sind als sichtbarer Rest einer großen, lebendigen mittelalterlichen Stadt bis in unsere Tage erhalten geblieben.
Drei mittelalterliche Kirchen in Hamburg: St. Petri
St. Katharinen
St. Jacobi
Dabei war Hamburg Sitz des „Apostels des Nordens“, des Bischofs Ansgar, der 831 in der ersten dort errichteten Missionskirche zum Bischof geweiht wurde. Unter dem Ansturm der Wikinger (845) wurde der Bischofssitz nach Bremen verlegt, Hamburg hatte aber bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts eine ehrwürdige Domkirche aus romanischer Zeit. Neben dem Dom wuchs die Zahl der Kirchspiele im 13. Jahrhundert bereits auf vier, dazu gab es zahlreiche Klöster und Spitäler. Es geht über den Rahmen dieser Einführung hinaus, eine Darstellung der wechselvollen Hamburger Stadtgeschichte zu geben. Der Versuch, eine einzelne Schicht im Untergrund der Metropolis freizulegen, muss hier genügen.
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Hans Uwe Hielscher
Die Orgellandschaft zwischen Weser und Elbe ____________________________________________________________ Das Gebiet, mit dem sich unser Thema befasst, ist keine abgeschlossene Landschaft und auch in der Vergangenheit nie eine solche gewesen. Es ist vielmehr ein Teil Niederdeutsch‐ lands, das zeitweise (z. B. zur Barockzeit) von Amsterdam bis Danzig eine kulturelle Einheit bildete. Im Gebiet zwischen Hamburg und Groningen finden wir noch heute die meisten alten Orgeln Deutschlands und der Niederlande. Im Blick auf die Geschichte dieser Orgeln und ihrer Erbauer (sowie deren Tätigkeitsbereich) ist ganz eindeutig Hamburg, wo die meisten der führenden Orgelbauer beheimatet waren, nicht nur geographischer Ausgangs‐ punkt, sondern auch Zentralpunkt unserer Betrachtung. Die Geschichte der ältesten Orgeln des oben genannten Gebietes geht bis in die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts zurück. Aus dem Jahre 1520 stammt die Orgel zu Rysum (bei Emden), die wir bereits auf unserer ersten (Ostfriesland‐)Studienfahrt kennenlernten. Bald nach 1520 setzte die Reformation ein, und es ist nicht uninteressant, dabei auch einmal die Orgelsituation der Nachbargebiete zu sehen: Besonders seitens der reformier‐ ten Kirche in Ostfriesland und Holland wurden die Orgeln nicht selten als „des Teufels Pfeifenstuhl“ abgelehnt und in blindem Eifer abgerissen. Aus Sengwarden im Oldenburgi‐ schen wird berichtet, dass „die Gemeinde willens war, den Prediger, der die Orgeln und Altäre bei Nachtzeiten zerbrach, mit gemeiner Hand todt zu schlagen. Er konnte nur kümmerlich sein Leben in einer Lehmgruben bergen.“ Aus Hamburg und seiner weiteren Umgebung sind solche Auswüchse nicht bekanntge‐ worden. Jedoch gibt es in der Zeit von 1520 bis gegen 1550 in Norddeutschland kaum Orgelneubauten. Umso häufiger treten dann nach der Mitte des 16. Jahrhunderts Um‐ und Neu‐ bauten auf, umso lebhafter setzt eine neue, erfin‐ dungsreiche Epoche ein. Den Hauptanteil daran hat zunächst die Hamburger Orgelbauerfamilie Scherer, die von ca. 1535 bis ca. 1630 durch drei Generationen gewirkt hat und durch die Hamburg die Führung im niederdeutschen Orgelbau erhielt: eine Bedeutung Hamburgs, die bis zum Tode von Arp Schnitger im Jahre 1719 währte. Jakob Scherer, der Begründer dieser Orgelbauerfamilie, wirkte von ca. 1535 bis ca. 1575. Die meisten Register dieses Meisters sind in der Orgel von Cappel erhalten. Tangermünde (St. Stephan): Scherer-Orgel 1624 Beispiel eines „Hamburger Prospektes“
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Hans Scherer d. Ä. wirkte von etwa 1575 bis 1611 im gleichen Gebiet wie sein Vater. Viele Register aus dieser Werkstatt sind noch erhalten in den Instrumenten von Hamburg St. Jacobi und in Himmelpforten. Hans Scherer d. J. setzte das Geschäft bis etwa 1631 fort und dehnte den Wirkungsbereich nach Süden bis Kassel, Herford und Minden aus. Die meisten Register dieses Orgelbauers finden sich noch in den Instrumenten von St. Stephan in Tangermünde; einer seiner herrlichsten Prospekte ist in St. Ägidien in Lübeck erhalten. Die Scherer‐Orgeln wurden im sogenannten „niederländischen Chormaß“ gestimmt, das fast zwei Halbtöne über unserem heutigen Kammerton lag. Auf dieser Tonhöhe stehen noch heute die meisten Schnitger‐Orgeln. Großen Wert legten die Scherer auf ein selb‐ ständiges Pedalwerk, das sich keine Stimmen mehr aus dem Hauptwerk auslieh. Sie zeig‐ ten große Vorliebe für weite Flötenstimmen, überblasende Querflöten und Regale. Die bisherige Großmixtur spalteten sie in Mixtur und Scharf auf und nahmen auch Trompeten‐ stimmen mit ins Hauptwerk auf. Die zusammengehörende Gruppe Prinzipal 8‘ / Quinta‐ dena 8‘ / Gedackt 8‘ kehrt fast regelmäßig in allen Dispositionen wieder, besonders in großen Rückpositiven. Auf einen wohlgegliederten Prospekt wurde ebenfalls immer Wert gelegt: Er ließ den Werkaufbau der Orgel (z. B. Hauptwerk/Rückpositiv/Brustwerk) klar erkennen. Man pflegt diese Form „Hamburger Prospekt“ (siehe Foto S. 9) zu nennen. Das Hauptwerk (damals meist Oberwerk genannt) besteht zunächst in der Mitte aus einem großen Rundturm mit den tiefsten Pfeifen dieses Manuals. Diese setzen sich dann (in C‐ und Cis‐Lade aufgeteilt) in zwei kräftig vorspringenden Spitztürmen fort und enden in dazwischenliegenden Flach‐ feldern, von denen die oberen meistens stumm sind. Das Rückpositiv zeigt denselben Aufbau in verkleinertem Maßstab. Das Ganze wird flankiert von den majestätischen Pedaltürmen, die ebenfalls in C‐ und Cis‐Lade aufgeteilt sind. Das Brustwerk liegt unter dem Hauptwerk, nimmt nicht teil an der Prospektgestaltung und ist meist mit durch‐ brochenen Türen versehen. Das Oberwerk liegt hinter der Bekrönung des Hauptwerkes und hat ebenfalls keinen Einfluss auf die Prospektbildung. Dieser ideale Werkaufbau hat sich bis in Schnitgers Zeit als die für Norddeutschland typische Form erhalten, und wir werden ihm in vielfältiger Form und Weise auf unserer Fahrt immer wieder begegnen. An weiteren norddeutschen Orgelbauern von historischer Bedeutung aus der Zeit von 1550 bis 1630 sind zu nennen: Matthias Mahn (Buxtehude), von dem noch schöne und interessante Stimmen im Rückpositiv der Orgel zu Altenbruch erhalten sind, Antonius Wilde (Otterndorf), ein Schüler von Hans Scherer d. Ä., mit einigen erhaltenen Stimmen in Lüdingworth und Wöhrden, Dirck Hoyer (Hamburg), Schwiegersohn von Jakob Scherer, mit einigen erhaltenen Stimmen in der Schnitger‐Orgel von Steinkirchen, Edo Evers (Jever), von dem noch mehrere Stimmen in der großen Schnitger‐ Orgel in Norden stammen, und dessen Orgel in Osteel erhalten ist. Beide Instrumente hörten wir ebenfalls auf unserer Ostfriesland‐Studienfahrt.
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Auch die niederländischen Orgelbauer aus der Zeit um Scherer haben großen Einfluss auf den heimischen Orgelbau gehabt und ihm wichtige Neuerungen gebracht (Hendrik Niehoff, Jasper Johansen, Andreas de Mare). Mit Beginn des 30‐jährigen Krieges, etwa um 1620, bricht dieser niederländische Einfluss aber wieder ab und es setzen neue orgelbauliche Strömungen ein, die von Mitteldeutschland durch den kursächsischen Orgel‐ bauer Gottfried Fritzsche (1578‐1638) herkommen, der seine Tätigkeit immer weiter nach Norden verlegte und über Braunschweig und Celle schließlich auch nach Hamburg kam. Gottfried Fritzsche, dessen Sohn Hans Christoph, sein Schwiegersohn Friedrich Stellwagen (Lübeck) und sein Schüler Jonas Weigel (Braunschweig) bilden die wichtige Brücke zwischen der Orgelbauerfamilie Scherer und dem wohl berühmtesten norddeutschen Orgelbauer, Arp Schnitger (1648‐1719). Arp Schnitger wurde am 2. Juli 1648, im Endjahr des 30‐jährigen Krieges, in Schmalenfleth (Kirchengemeinde Golzwarden) in der Oldenburgischen Wesermarsch geboren. Bis zu seinem 18. Lebensjahr blieb er im Elternhaus und muss sich in dieser Zeit die Grund‐ Eigenhändiger Namenszug: lage zu einer guten Allgemeinbildung Arp Schnitger Orgelmacher erworben haben, die später die seiner meisten Berufskollegen übertraf. Vom 14. Lebensjahr an erlernte Schnitger in gründlicher Lehrzeit bei seinem Vater in Schmalenfleth das Tischlerhandwerk. 1666 trat er dann zur speziellen Ausbildung im Orgelbau in die Werkstatt seines Vetters Berendt Huß in Glück‐ stadt (Holstein) ein, der er zunächst fünf Jahre als Lehrling und danach als Geselle bis zum Tode seines Meisters (1676) angehörte. Im Jahre 1677 hat Schnitger sich in Stade als selbständiger Meister niedergelassen und dort fünf Jahre lang bis zu seiner Übersiedlung nach Hamburg seinen Wohnsitz gehabt. Während dieser fünf Stader Jahre sind z. B. seine Instrumente in Borstel, Jork, Bülkau, Hamburg St. Johannis (heute in Cappel), Lüdingworth und Hamburg‐Kirchwerder entstan‐ den. Die bedeutendsten Orgeln Schnitgers entstammen aber seiner Hamburger Werkstatt, wo der Meister von 1682 bis zu seinem Tode 1719 wirkte. Der entscheidende Schritt in der Entwicklung Schnitgers als Orgelbauer war der Bau seines größten Werkes in der Hamburger St. Nikolaikirche (IV/P/67, 1687 vollendet). Dieses her‐ vorragende Werk war damals die größte Orgel Deutschlands. 1842 fiel das Instrument samt Kirche dem großen Hamburger Brand zum Opfer. Wenige Jahre nach der Einweihung dieser Schnitger‐Orgel wurde dem damaligen Organisten Conrad Möhlmann, der, wie es die Akten verzeichnen, „die kostbare und schöne Orgel nicht mehr angreifen konnte, wie es wohl sein sollte“, dieses Amt gekündigt und Vincent Lübeck zu seinem Nachfolger gewählt, der diese Stellung bis zu seinem Tode 1740 innehatte. Dieses Instrument und die 1693 eingeweihte Jacobi‐Orgel waren es vor allem, die den Boden für die spätere Ausdeh‐ nung Schnitgers Arbeitsgebiets nach Holland, England, Portugal und Russland vorberei‐ teten.
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In Norddeutschland zeugen aber vor allem die großartigen Instrumente von Norden, Steinkirchen, Neuenfelde, Mittelnkirchen, Lüneburg, Cappel, Weener – um nur einige zu nennen – von seiner hohen Kunst. Die Hauptursachen seiner sehr erfolgreichen Tätigkeit lagen zweifellos in seiner überragenden Persönlichkeit und Ge‐ schicklichkeit begründet. Dabei treten zwei Charakterzüge besonders hervor: seine Frömmigkeit und seine Uneigen‐ nützigkeit. An manchen seiner Orgeln findet sich das „Soli Deo Gloria“, und an den Anfang seiner Manuskripte pflegte er zu schreiben: „In Jesu Namen. Amen.“ Nicht selten hat er armen Gemeinden „zur Ehre Gottes“ unter Selbstkosten‐ preis Orgeln geliefert. Seiner Uneigennützigkeit, „seinen guten Hertzen“, wie eine Oldenburger Akte sagt, begegnet man besonders in seiner oldenburgischen Heimat, z. B. in seinem Geburtsort Golzwarden und in der Stadt Olden‐ Schnitgers Wappen (l.) burg. Im Aufbau seines weitverzweigten Geschäftes zeigt mit dem Zirkel, dem Symbol der Orgelbauer, und sich sein beharrliches Streben und seine organisatorische gekreuzten Stimmhörnern Begabung. Sein gewissenhaftes Handeln und seine Über‐ (oben). Für seine Frau (r.) zeugungskraft erweckten sogleich Vertrauen bei Bürger‐ Blumen, Obstbaum und Ähre. meistern, Geistlichen und Kirchenvorstehern. Dieses Ver‐ trauen suchte sich Schnitger stets zu erhalten. In seinem letzten Lebensjahrzehnt scheint er beruflich mancherlei Rückschläge erfahren zu haben. Einige seiner Meistergesellen machten sich von etwa 1710 an selbständig, und so nahm Schnitgers Tätigkeit an Umfang mehr und mehr ab. Im Winter 1718/19 reiste der Meister mit seinem Sohne Franz Caspar nach Zwolle in Holland, um über einen großen Neubau in der dortigen Michaeliskirche zu verhandeln. Die beschwerliche Reise in diesem außergewöhnlich kalten Winter hatte aber offenbar die Gesundheit des 71‐jährigen derart erschüttert, dass er im Juli 1719 starb. Heute ist kaum ein Orgelbauer der Vergangenheit nach langer Vergessenheit so schnell wieder in den Vordergrund gerückt und zu solchem Nachruhm gelangt wie Arp Schnitger. Durch ihn hat die klassische norddeutsche Orgelbaukunst ihre Vollendung gefunden. Seine Bauweise ist in den letzten Jahrzehnten in mancher Hinsicht zum Aus‐ gangspunkt der neueren Orgel‐ baukunst des In‐ und Auslandes Hier hat Schnitger bis zu seinem Tod gelebt: geworden. der „Orgelbauerhof“ in Neuenfelde.
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Von Arp Schnitgers Schülern lassen sich etwa 50 feststellen. Es ist zu vermuten, dass die wirkliche Anzahl noch größer war. Der Bereich dieser Schüler‐Tätigkeit umfasste über den Wirkungskreis ihres Meisters hinaus Skandinavien, den westlichen Teil der Niederlande, das Gebiet von Celle, Hannover und Hildesheim sowie Hessen und Schlesien. Sie schlossen sich fast ausnahmslos eng an die Arbeitsweise Schnitgers an und vermittelten z. T. die Prinzipien der klassischen Bauweise bis ins 19. Jahrhundert. Nur einige von ihnen können hier genannt werden: Lambert Daniel Carstens (Schlossorgel Charlottenburg, später Kopenhagen, Norwegen, Finnland. Christoph Treutmann (Magdeburg) erbaute z. B. die Orgel für die Klosterkirche Grauhof bei Goslar. Christian Vater (Hannover) baute Werke in Amsterdam, Oldenburg und im Hannoverschen (Gifhorn). Matthias Dropa (Lüneburg), von dem einige Stimmen der Orgel von Altenbruch erhalten sind. Gerhard von Holy baute vorzügliche Orgeln in Dornum und Marienhafe (Ostfriesland). Rudolf Garrels, der gleich‐ zeitig Bildschnitzer war, (von ihm stammt die Kanzel der Ludgerikirche in Norden) ließ sich in Den Haag nieder und verfertigte sein größtes Werk in Maassluis. In der Logik des Dispositionsaufbaus übertreffen Arp Schnitger und seine Schule alle ihre Vorgänger. Jedes der einzelnen Werke ist wohlausgewogen mit Eng‐ und Weitchorstimmen und reich besetzt mit Zungen‐ stimmen, bilden also in sich eine geschlossene Einheit. Zum klaren Aufbau der Disposition kommt als weite‐ rer typischer Faktor der norddeutschen Barockorgel das reich besetzte Pedal, das mit melodieführenden Labialen bis zum Nachthorn 2‘ und Zungenstimmen bis hin zum 2‘ besetzt ist. Schnitgers Zungenstimmen haben höchste Anerkennung bei seinen Zeitgenossen gefunden: Sie besitzen große Verschmelzungsfähig‐ keit, und auf ihr beruht hauptsächlich die grandiose Wirkung seiner Pedale. Mit diesen reichbesetzten Pedalwerken kamen die mächtigen Pedalsoli, die sich in den Toccaten und Präludien der norddeutschen Groningen (Martinikerk): Meister finden, zu herrlicher Wirkung. Schnitger-Orgel von 1692 Insgesamt gesehen kann man sagen, dass es durch‐ weg keine übergroßen Orgeln sind, die hier im Land zwischen Weser und Elbe entstanden sind. Dafür gibt es mehrere Gründe: Einerseits ist dies keine industrielle Landschaft, sondern eine eher ländlich geprägte. Damit sind den finanziellen Mitteln bzw. Möglichkeiten sehr bestimmte Grenzen gesetzt. Andererseits begründen auch die Verhältnisse zum jeweiligen Kirchenraum zumeist ein Maß, das zur Bescheidenheit zwingt. Die Großorgeln älteren und neueren Datums finden sich vorwiegend in den Städten Hamburg und Bremen, also in hanseatischen Stadtstaaten, die wirtschaftlich völlig anders konstruiert sind. Auch in Norddeutschland sind im 19. Jahrhundert Barockorgeln in Unkenntnis ihrer Werte zerstört oder im Sinne der jeweiligen Moderne umgebaut worden, aber nicht in dem Maße, wie anderswo. Deshalb sind auch gerade solche stillen Orte wie Altenbruch, Lüdingworth,
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Cappel oder Stade heute zu Wallfahrtstätten für Orgelfreunde aus der ganzen Welt gewor‐ den. Auch der letzte Krieg hat hier nicht tiefgreifend vernichtet, und so verwundert es nicht, dass gerade hier im Land zwischen Elbe und den Niederlanden der Gedanke zur Rettung der alten Orgeln zuerst gefasst wurde, wobei die Kunst der Restaurierung überhaupt erst einmal gelernt werden musste. Auf der anderen Seite muss aber auch gesagt werden (um das Bild nicht einseitig zu verzeichnen), dass es bei den Großorgeln neueren Datums in der Tat eine moderne Ausweitung des Klangbereiches in reichem Maße gibt (z. B. in allen fünf Hamburger Hauptkirchen). So soll denn auch diese unsere zweite Norddeutschland‐Orgelfahrt mit ihren prächtigen alten und neuen Instrumenten dazu verhelfen, eine weitere Lücke unserer Orgelkenntnis mit Auge und Ohr zu schließen.
Zwei Orgeln von Schülern Arp Schnitgers
Treutmann-Orgel von 1737, III/P/42 im Kloster Grauhof bei Goslar
Vater-Orgel von 1748, II/P/24 in der St. Nicolaikirche in Gifhorn
Der gebürtige Schlesier Christoph Treutmann (1675-1757) erlernte den Orgelbau zunächst bei Heinrich Herbst d. J. in Magdeburg und war um 1690 als Geselle bei Arp Schnitger tätig.
Christian Vater (1679-1756) war in Hannover ansässig und erlernte den Orgelbau bei Arp Schnitger von 1697 bis 1702. Seine Dispositionen und Gehäuse lehnen sich eng an den Stil Schnitgers an.
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Hans Uwe Hielscher
Der Orgelbauer Rudolf von Beckerath (1907-1976) ____________________________________________________________ Rudolf von Beckerath wurde am 19. Februar 1907 in München geboren, doch schon vier Wochen nach seiner Geburt verlegten die Eltern, eine sehr musi‐ sche Familie, ihr Domizil nach Hamburg. Die Bin‐ dung der Familie zu Hamburg bestand schon seit Großvaters Zeiten, der ein Freund von Johannes Brahms gewesen war. Der Vater Rudolf von Becke‐ raths war Maler und schuf berühmte Portraits des Musikers. Als der Orgelvirtuose Alfred Sittard dem siebenjährigen Rudolf die Orgel der Hamburger St. Michaeliskirche zeigte, hatte ihm die Stunde geschlagen. In den folgenden Jahren führte ihn der Schriftsteller, Architekt und Wortführer der deutschen „Orgelbewegung“ Hans Henny Jahnn zu den schönsten Instrumenten. Arp Schnitgers Orgel in der Jacobikirche, zur Zeit des Barocks in der Hamburger Werkstatt des Meisters entstan‐ den, wurde zu einem Erlebnis für Rudolf von Beckerath: Er wollte Orgelbauer werden. Eine Lehr‐ stelle fand sich aber nicht für ihn in der Hanse‐ Rudolf von Beckerath stadt. Es gab Menschen, denen war die Verbin‐ dung Beckeraths zu Jahnn, dem „Hecht im Karpfenteich“, nicht geheuer. Eine dreijährige Tischlerausbildung in der Landeskunstschule Hamburg gab ihm das handwerkliche Rüst‐ zeug, sich anschließend zu Hause bei den Eltern in der Rothenbaumchaussee in einjähriger Arbeit die erste eigene Orgel zu bauen. 1928 ging Rudolf von Beckerath für acht Jahre nach Paris zu dem bekannten französischen Orgelbauer Victor Gonzales in die Lehre. Zwischendurch studierte er, nach Absprache mit seinem Meister, den Orgelbau in Dänemark. Als er 1936 von Paris nach Hamburg zurück‐ kehrte, hatte sich im „1000‐jährigen Reich“ vieles verändert. Von Beckerath besaß weder Gesellen‐ noch Meisterbrief. Wer fragt im Ausland schon danach? In Deutschland wurde es zu einem Handikap. Er durfte nicht arbeiten. Das „Reichs‐ und Preußische Ministerium für kirchliche Angelegenheiten“ war klüger und gab dem Orgelbauer einen Beratervertrag. Dann kam der Krieg. 1941 wurde von Beckerath Soldat und Dolmetscher in Frankreich: Eine Rückkehr, die er sich anders vorgestellt hatte. Der Kriegsgefangenschaft in einem amerikanischen Camp folgte 1946 die Entlassung. 1947 wanderte Rudolf von Beckerath im Auftrage der Landeskirche Hannover mit einem Rucksack durch das Land, um Orgeln aufzumessen, deren Unterlagen verlorengegangen
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waren. 1948 bot man ihm die Restaurierung der Schnitger‐Orgel in Steinkirchen an. Die Arbeit begann wieder. Das Leben normalisierte sich langsam. Um Paragraphen Genüge zu tun, machte Rudolf von Beckerath 1949 seine Meisterprüfung und gründete im selben Jahr sein Unternehmen. In dem alten, vierstöckigen Fabrikgebäude im Hinterhof in Hamburgs Gluckstraße Nr. 53 wurde die erste große, mechanische Schleif‐ laden‐Orgel für die Musikhalle der Hansestadt gebaut. Noch heute ist dieses Haus Geburts‐ stätte der Beckerath‐Orgeln, die in aller Welt erklingen. Orgelbauer ist ein Beruf mit jahrhundertalter Tradition. Alles, was bei der Orgel mit der Tonbildung zusammenhängt, besonders die mechanische Verbindung zwischen Taste und Pfeifenventil, hat hier den Boden dieser Tradition niemals verlassen. Was über vier Stock‐ werke verteilt in monatelanger Arbeit entsteht, wird in Container verpackt und erst an Ort und Stelle zum ersten Mal zu einer Orgel zusammengebaut. Hier wird das Instrument auch erst zum Schluss intoniert, um es auf den jeweiligen Raum abzustimmen. 15.000 DM kostet eine Orgel für den Hausgebrauch, bis zu einer Dreiviertelmillion ein großes Instru‐ ment. Dreihundert Arbeitsstunden benötigt man für ein Orgelregister. Beckerath‐Orgeln erklingen überall in Europa, in den USA, Hawaii und Australien. „Wir bekommen die Anre‐ gungen von den Musikern, und damit liegt die Entwicklung, auch für den Orgelbau, in der Musik“, sagte Rudolf von Beckerath, für den Hobby und Beruf eines und Lebensaufgabe waren. Er verstarb am 20. November 1976 im Alter von fast 70 Jahren. Montréal/Québec (Kanada): Beckeraths „Opus Magnum“, erbaut 1959-60, V/P/78
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Rudolf von Beckerath
Die Orgelbaukunst aus europäischer Sicht ____________________________________________________________ Die Orgelbaukunst als ein über tausendjähriges Handwerk ist hineingewachsen in das Atomzeitalter, das Zeitalter der Kunststoffe, das Zeitalter umwälzender geistiger Bewegun‐ gen, und man wird sich fragen müssen, ob eine weitere Ausübung dieses Handwerkes bei so völlig veränderten Verhältnissen noch einem wirklichen inneren Bedürfnis entspricht, oder ob es bis heute überleben konnte aus bequemem Festhalten an alten Bräuchen. Mit atemberaubender Geschwindigkeit haben sich Technik und Wissenschaft in den letzten Jahrzehnten entwickelt. Eine neue Musik ist entstanden, die Elektronik hielt Einzug ins Musikleben, neue Instrumente wurden entwickelt, und in der Flut der sich fast überstür‐ zenden Ereignisse wird man sich unschwer der Problematik dieses traditionsgebundenen Handwerks bewusst. So gesund und so notwendig für das Handwerk seine Verankerung in der Tradition ist, so groß ist aber dadurch die Gefahr, mit der lebendigen Gegenwart den Kontakt zu verlieren. An noch vorhandenen Beispielen vergangener Zeiten lässt sich erkennen, dass bei aller Strenge und Gebundenheit der Konzeption die Orgeln stets ein Spiegel der musikalischen Erfordernisse, des technischen Standes und handwerklichen Könnens ihres Zeitalters waren. Ich sehe für die Orgelbaukunst unserer Zeit nur dann die Möglichkeit des Überlebens und der Weiterentwicklung, wenn sie sich mit den in den letzten zwei Jahrzehnten auf sie zugekommenen Entwicklungen ganz positiv auseinandersetzt. Es mag interessieren, wenn ich sage, dass dies auf technischem Gebiet teilweise schon geschehen ist. Die Elektronik beginnt auf dem Gebiet der Registersteuerung eine immer größere Rolle zu spielen, Kunststoffe und ihre vielseitige Verwendungsmöglichkeit haben bei der Lösung material‐ abhängiger Probleme geholfen. Auf dem Gebiet der Tonerzeuger allerdings steht der Orgelbau abwartend da. Der neue Tonerzeuger unserer Zeit ist der Lautsprecher, und die Orgel hat Pfeifen! Die elektronisch erzeugte Musik braucht den Lautsprecher als Mittler. Ob sie die Pfeifenorgel jemals ver‐ drängen wird, wage ich einstweilen zu bezweifeln, aber auf dem ihr eigenen Boden wird sie zweifellos noch eine beachtliche Zukunft haben. Entscheidend freilich wird die Auseinandersetzung mit der heutigen Musik und ihren Komponisten sein. Wir erleben diesen Prozess gegenwärtig, und ich glaube, er wird nur dann Früchte tragen können, wenn Orgelbauer und Komponisten Kontakt suchen, sich gegenseitig befruchten, aber auch gegenseitig die natürlichen Grenzen des Instrumentes, dem sie sich verschrieben haben, anerkennen. Die Orgel ist das Instrument der Polyphonie par excellence, dessen sollte jeder eingedenk sein, der sich mit ihr beschäftigt. „Je arteigener und eigenständiger eine Orgel ihren Stil vertritt, umso eher wird sie in der Lage sein, auch Kompositionen anderer Stilepochen eine Heimat zu sein“, so hat es einmal Christhard Mahrenholz ausgesprochen und deutet damit etwas an von der Universalität dieses Instrumentes.
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Etwas von der angedeuteten Problematik der heutigen Orgelbaukunst hat es freilich zu allen Zeiten gegeben. Ohne die fruchtbare Auseinandersetzung zwischen Musik und Handwerk hätte die Orgelbaukunst der Vergangenheit ja niemals die Höhepunkte erreichen können, die wir heute vorwiegend im Barock und Frühbarock sehen. Aber auch schon sehr viel früher muss es solche Höhepunkte gegeben haben, wenn wir die wenigen noch erhaltenen Berichte oder Beschreibungen betrachten. Im antiken Rom wurden technisch vollkommene Portative und Positive gebaut mit mehreren durch Registerkanzellen absperrbaren Reihen offener und gedeckter Pfeifen aus dünnem Messingblech. Wir sind über die römischen Orgeln durch Funde und die ausführliche Beschreibung von Vitruvius (1. Jahrhundert n. Chr.) unterrichtet. Vermutlich hatten diese lauten Instrumente auch Zungenpfeifen nach Art von Schalmeien. Man baute nicht nur Hydrau‐ len, bei denen der luftdichte Abschluss des Wind‐ magazins und die Druckhaltung nach Art der nassen Gasometer durch Wasser erreicht wurde, sondern Orgeln mit Bälgen nach heutiger Art, wie ein weni‐ ger bekannter Text des Staatsmanns und Schrift‐ stellers Cassiodorus Senator (etwa 485‐580) unter dem Ostgotenkönig Theoderich beweist. Eine Über‐ lieferung des in den Stürmen der Völkerwanderung Portativ untergegangenen Orgelbauhandwerks hielt sich in Byzanz, dessen Herrscher im 8. Jahrhundert n. Chr. Orgeln nach Westeuropa schenkten. Diese Instrumente wurden von geschickten Handwerkern alsbald nachgebaut. So berich‐ tete der Mönch Wulstan in einer dem Bischof Elphegus Calvus 951 zur Einweihung der Kathedrale von Winchester gewidmeten Laudatio über die dort gebaute Orgel, dass sie zwei Stockwerke hoch sei, wie man noch keine sah, dass sie 400 Pfeifen habe, man ihren Schall in der ganzen Stadt höre, und ihr Ruhm sich über das weite Land verbreite. Die Klöster des frühen Mittelalters waren die Stätten des Wissens, und man wird annehmen dürfen, dass auch das Wissen um die Orgelbaukunst von dorther seine Ausbreitung fand. Die Kunst des westlichen Abendlandes kannte keine Grenzen des Landes, und was wir an Nachrichten heute noch besitzen, zeigt ganz deutlich, dass die Orgeln des frühen und Hochmittelalters in dem Raum, den wir heute Europa nennen, sich sehr ähnlich waren. Sie hatten alle das Dach ihres gemeinsamen Ursprungs, eben das der westlichen abend‐ ländischen Kultur über sich. Vergleiche aus Berichten über Maßverhältnisse zeigen eine seltene Übereinstimmung. Die älteste Pfeifenreihe, die der Orgel arteigen und nur allein bei ihr gefunden wird, ist die „Tibia aperta“, das „Prinzipal“, eine offene, zylindrisch geformte Pfeife. Sie ist auch heute noch das Rückgrat der Orgel, und die aus dem Prinzipal gebildeten Reihen bilden heute
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wie früher das große und kleine Plenum der Orgel. Mit ihrem Gelingen steht und fällt der musikalische Wert des erbauten Instrumentes. Die Ähnlichkeit oder Ver‐ wandtschaft der Orgeln des ganzen europäischen Abend‐ landes jener Zeit wird durch die Gleichartigkeit in der Behandlung des „Prinzipals“ besonders deutlich offenbar. Nach ursprünglicher Ablehnung und längerem Zögern fand die Orgel schließlich Eingang in die Kirche. Bei der zentralen Stellung, die das kirchliche Leben bei den Völkern Westeuropas einnahm, kann es nicht verwun‐ dern, dass die nun in einen sakralen Raum gestellte Orgel eine Entwicklung nahm, die zu einer ungewöhn‐ lichen Prachtentfaltung führte und ihr durch mehrere Jahrhunderte neben dem Gesang der Menschen eine Prinzipal-Pfeifen dominierende Rolle in der Kirchenmusik sicherte. Die Hochblüte der europäischen Orgelbaukunst kann man etwa in die Zeit von 1500 bis 1800 legen. Dass sie in den verschiedenen Ländern Europas eine verschiedene Entwicklung durchmachte, wird man der unterschiedlichen Kirchenmusik, sicher aber auch dem unter‐ schiedlichen Temperament der Völker zuschreiben müssen, bei denen sie heimisch wurde. Eine besondere Entwicklung machte die Orgel im nordeuropäischen Raum seit der Refor‐ mation durch. Unter dem Einfluss des besonders vom Luthertum geprägten protestan‐ tischen Chorals erhob sie sich aus der dienenden Funktion des Begleitinstruments zur selbständigen Künderin des Gotteswortes. So, glaube ich, muss man das Choralwerk Bachs, seiner Vorgänger, Zeitgenossen und auch Nachfahren verstehen. Die Folge war eine Blüte, wie sie in dieser Vollkommenheit kaum je wieder erreicht wurde. Das der Orgelbaukunst in Holland, Frankreich, Spanien, Italien und Deutschland zugrundeliegende, völkerverbin‐ dende Gedankengut, wie es aus dem Hochmittelalter überkommen war, ist zum Funda‐ ment der europäischen Orgelkunst geworden und bleibt es bis ins späte 18. Jahrhundert. Dann beginnt sich allerdings eine Wandlung abzuzeichnen. War bisher die Orgel das Instrument der Polyphonie, so beginnt jetzt, parallel zur musika‐ lischen Entwicklung, ein langsamer Wandel zum homophonen Instrument. Das sich immer mehr in den Vordergrund schiebende Orchester, natürliche Folge der sich ständig verbrei‐ tenden, nicht mehr an die Kirche gebundenen profanen Musik, forderte zur Imitation heraus und führte schließlich zum Bau jener Riesenorgeln, von denen mit Stolz gesagt wurde, ein einzelner Mann könne damit ein ganzes Orchester ersetzen. Diese Entwicklung ist der Orgel nicht gut bekommen. Sie wurde ständig größer, im Klang dicker; immer mehr wurde die Gegensätzlichkeit verschiedener Farben zugunsten der Steigerung vom pp bis zum ff bei nur geringfügig sich ändernder Klangfarbe aufgegeben. Eine Technisierung setzte besonders in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein, die die ursprüngliche Substanz der Orgel auf das Äußerste gefährdete. Die Elektrizität erlaubte eine Winderzeugung in beliebiger Menge und in jedem Druck. Steigender Druck und
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Windmenge erschwerten aber die Spielart der zunächst noch mit mechanischen Trakturen ausgerüsteten Orgeln so stark, dass man nach Wegen suchen musste, dem Spieler selbst die Kraftbetätigung zu ersparen. Die alte mechanische Traktur, also die starre, über Winkel und Wellen geführte Verbindung zwischen Taste und Pfeifenventil, arbeitet nicht nur ohne Zeitverzögerung, sondern erlaubt außerdem, mittels differenzierten Anschlags den Anlaut der Pfeife, ihren Einschwing‐ vorgang, zu beeinflussen. Die Kontrolle des Einschwingvorgangs, Artikulation und Phrasie‐ rung sind bei der mechanischen Traktur die Mittel, die es dem Spieler erlauben, sein Spiel lebendig zu machen. Ersetzt man die mechanische Traktur durch einen pneumatischen oder elektrischen gefühllosen „Vorspann“, dann wird die Verwendung einer solchen ener‐ getischen Technik zum Störfaktor, wenn sie solchermaßen zwischen die Sinne des Spielers und sein Instrument geschaltet wird, denn sie schaltet die Kontrollmöglichkeit der Sinnes‐ physiologie aus. Die Orgel hat, wie alle anderen Musikinstrumente auch, den Anspruch darauf, dass der Musiker die Tonerzeugung durch sein Spiel kontrollieren kann. Kann er es nicht, dann ist das Instrument so tot wie ein Elektrium. Mit der Wiedereinführung bzw. Erhaltung der mechanischen Traktur steht und fällt meines Erachtens die Überlebens‐ chance der Orgel. Der große französische Orgelbaumeister Aristide Cavaillé‐Coll (1811‐ 1899) schuf die symphonische Orgel der französischen Hochromantik, war also durchaus ein Kind seiner Zeit: Die mechanische Traktur hat er jedoch dabei nie aufgegeben. Die Industrialisierung machte auch vor der Orgelbaukunst nicht halt. Die billige Orgel wurde gebaut. Die totale Wandlung des Geschmacks, der Verfall der Orgelbaukunst, hat dieses Instrument fast in Verruf gebracht. An warnenden Stimmen hat es seit Beginn unseres Jahr‐ hunderts allerdings nicht gefehlt. Hier sei Albert Schweitzer und seine „elsässisch‐neudeutsche Orgel‐ reform“ um 1905 genannt, von der allerdings keine nachhaltige Wirkung ausging. Dortmund (St. Reinoldi): Walcker-Orgel 1909 (V/P/113), erbaut nach Schweitzers Plänen zur „Elsässisch-neudeutschen Orgelreform“, ebenso wie die Walcker-Orgel von 1912 in Hamburg (St. Michaelis), V/P163
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Das blieb der vorwiegend in Deutschland entstandenen „Orgelbewegung“ vorbehalten, die mit der großen Organistentagung Hamburg‐Lübeck 1925 Umkehr, Rückbesinnung auf kostbare vergangene Werte und einen Neuanfang in der Orgelkunst einleitete. Männer wie Christhard Mahrenholz, Willibald Gurlitt und Hans Henny Jahnn waren damals die führenden Köpfe. Die Schönheit der vergessenen Orgeln des 17. und 18. Jahrhunderts und ihre besondere Eignung für die Interpretation polyphoner Orgelmusik wurde wiederent‐ deckt, und man war betroffen über das Ausmaß an nicht wiedergutzumachenden Zerstö‐ rungen. Viele kostbare Orgeln waren Unverstand und Erneuerungswut zum Opfer gefallen. Ich selbst habe noch die Zerstörung alter Orgeln längst nach dem Einsetzen der Orgel‐ reform erlebt. Als junger Mensch, noch ganz unter dem Eindruck dieser Reform und der wiederentdeckten alten Orgeln, ging ich damals nach Frankreich. Dort, so hieß es, sei die alte Tradition noch lebendig, aus ihr könne ich lernen. Mit großen Erwartungen ging ich hin, erlebte aber zunächst eine bittere Enttäuschung. Die sympho‐ nischen Orgeln Cavaillé‐Colls waren so gänzlich ver‐ schieden von den Orgeln eines Scherer, Schnitger oder Silbermann. Was aber noch lebendig war, und wovon ich in großem Maße profitieren konnte, war die handwerkliche Tradition. Man verstand noch etwas vom Bau mechanischer Trakturen. Ich habe eine Reihe älterer Leute aus dem Hause Cavaillé‐Coll gekannt (auch mein Lehrmeister Victor Gonzalez gehörte dazu), von denen man ungeheuer viel lernen konnte. Wenn mir auf dem Gebiete des Baues mechanischer Schleif‐ Victor Gonzalez (1877-1956) ladenorgeln einige Erfolge beschieden waren, so muss ich dankbar anerkennen, dass ich sie zu einem guten Teil diesen Männern zu verdanken habe. Sehr bald nach 1925 setzten, befruchtet von der deutschen Orgelreform, ähnliche Bestre‐ bungen in Skandinavien, Holland und der Schweiz ein. Ab 1934 etwa machten sich erste Anzeichen auch in Frankreich bemerkbar. Heute ist die Schleifladenorgel mit mechani‐ scher Spieltraktur wieder eine durchaus europäische Angelegenheit geworden, nachdem schließlich auch das konservative England und die Mittelmeerländer begannen, sich mit dem Gedankengut der Orgelreform positiv auseinanderzusetzen. Es ist erstaunlich, welche Ausstrahlungskraft diese Bemühungen haben. Auch die nach neuen Erkenntnissen gebau‐ ten Orgeln in den USA, dem Lande der elektrisch gesteuerten Riesenorgeln, sind im Vor‐ dringen begriffen. Der amerikanische Orgelbau beginnt sich umzustellen, und er muss es tun, wenn er am Leben bleiben will. Mit einem nach vorwärts und einem nach rückwärts gerichtetem Blick steht der heutige Orgelbau vor zwei Aufgaben: Bewahrung des Alten, Konzeption der Orgel der Gegenwart, in der die Tradition in verwandelter Form weiterlebt. Man unterschätze nicht die Bedeu‐
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tung der Bewahrung des Alten: Schließlich sind es die Instrumente des 16., 17. und 18. Jahrhunderts gewesen, die uns bei der Suche nach der Orgel unserer Zeit die Wege gewie‐ sen haben. Die Zahl der unverändert erhaltenen Instrumente, an denen ein Studium noch möglich ist, ist allerdings erschreckend klein geworden. Eben daraus erwächst meines Erachtens für Kirchenmusiker und Orgelbauer die Verpflichtung, sich für die Erhaltung solcher Instrumente in ihrem Originalzustand einzusetzen. Wie ich selbst diese Aufgabe sehe? In ihrer musikalischen Konzeption sollte die Orgel in ihrer Aussage klar und kompromisslos sein. Sie sollte das bleiben, was sie immer war: das polyphone Instrument par excellence. Homophonie ist damit nicht ausgeschlossen. Der Spieler muss die Möglichkeit haben, die Tonerzeugung zu kontrollieren, d. h. alle seine Anschlagnuancen müssen sich getreu auf das Pfeifenwerk übertragen lassen. Die moderne Technik bis hin zur Elektronik sollte da eingesetzt werden, wo sie wirkliche Dienste leisten kann, und das ist bei der Registersteuerung. Im Gesamtaufbau soll die Orgelfront ein Spiegel ihres Inneren sein und die unterschied‐ liche Lokalisation ihrer Klänge Prinzip ihres inneren Aufbaus bleiben. Es ist schwer, etwas über den Klang zu sagen, da hier naturgemäß Fragen des Geschmacks hineinspielen. Vielleicht lassen sich aber die grundsätzlichen Fragen des Klanges mit wenigen Worten so umreißen: Man lasse jede Pfeife natürlich und locker sprechen, wie sie es kraft der für sie gewählten Maße und Formen kann und will. In der Ordnung der Pfeifenreihen zueinander setzt das naturgemäß wohldurchdacht. Proportionen und Reihenmaße voraus. Das ist bei der Planung die eigentliche schöpferische Arbeit des Orgelbauers. Hat er dabei eine glückliche Hand, so wird die Antwort das sein, was die Menschen seit Jahrhunderten an diesem Instrument fasziniert hat: Strahlender Glanz, unvergleichlicher Wohllaut, Würde und Majestät des Klanges. (Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Firma Rudolf von Beckerath, Hamburg)
Bielefeld (Ev. Altstädter Nicolaikirche) Beckerath-Orgel von 1965 III/P/48
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Hans Uwe Hielscher
Verdienst und Grenzen der deutschen „Orgelbewegung“ ____________________________________________________________ Der Orgelbau unseres Jahrhunderts ist nicht nur gekennzeichnet durch eine Rückbesinnung auf die Grundlagen des barocken Orgelbaus, sondern auch durch den Streit über die Zweckmäßigkeit einer solchen Rückbesinnung. Wie verschiedentlich schon an anderer Stelle dieses Heftes angedeutet, kam der Anstoß zur „Orgelbewegung“ Anfang unseres Jahrhunderts von der musikalischen Seite her, indem man sich von den romantischen Charakterstücken weg wieder mehr der barocken Orgelmusik zuwandte. Albert Schweitzer wies mit Recht darauf hin (1906), dass die Orgeln der Jahrhundertwende für die Wieder‐ gabe barocker Musik schlecht geeignet seien. Die Beschäftigung mit den erhaltenen alten Instrumenten, besonders im Raum Hamburg‐Lübeck, führte in den zwanziger Jahren dann zur sog. „Orgelbewegung“, die sich für die Wiedererweckung der Gestaltungsprinzipien der Barockorgel einsetzte, d. h. sichtbarer Werkaufbau, Schleiflade mit mechanischer Traktur, geschlossene Gehäuse, farbige und obertonreiche Disposition. Solche Instrumente sind unbestreitbar bestens geeignet für die Orgelmusik bis Anfang des 19. Jahrhunderts, sie müssen aber analog dazu bei der spätromantischen Konzertliteratur versagen, genauso wie die Orgel von 1900 für die authentische Wiedergabe Bachscher Werke versagte. Dies vergessen viele der „orgelbewegten“ Enthusiasten, die mit großer Selbstverständlichkeit ihren Anspruch auf Ausschließlichkeit, Exklusivität und Unfehlbarkeit vortragen, vor allem aber eine gewisse Intoleranz anderer Denk‐ und Erscheinungsformen offen zutage treten lassen. Genau hier setzt die Kritik der Gegner der „Orgelbewegung“ ein. Bei allen künstlerischen Reformbewegungen, die mit diktatorischer Gewalt vorgehen, führt der Weg doch zumeist zu völliger Sterilität! Die historisierende „Orgelbewegung“ hat seit 1927 im deutschen Orgelbau und in der Orgelkultur allgemein reine Bilderstürmerei betrieben. Es gab nur noch Rückbesinnung und den mehr oder weniger dilettantischen Nachbau von Oldtimern. Inzwischen ist der Tiefpunkt überschritten. Die „Orgelbewegler“ haben einsehen müssen, dass sie sich unter Nichtbeachtung aller Mahnungen in eine Sackgasse hineinmanövriert haben. Nachdem die ehemals führenden Kräfte im Ruhestand sind und demnach als Diktatoren keinen maßgebenden Einfluss mehr haben, ist eine neue Generation von Orgelkomponisten, ‐spielern und ‐bauern herangewachsen, die dort ansetzten, wo die deutsche Orgelkultur 1927 stehengeblieben war. Das von der „Orgelbewegung“ als dekadent abgelehnte vorige Jahrhundert kommt gerade in unseren Tagen in Schallplatten‐ einspielungen und Orgelkonzerten sprunghaft wieder zur Geltung. Auch der Orgelbau hat inzwischen nachgezogen. In mittelgroßen Kirchen und Domen bemüht man sich mit Eifer um Neukonstruktionen technischer und klanglicher Art. Und wie kultiviert klingen diese Instrumente im Vergleich zu den Erzeugnissen der „Orgelbewegung“! Das klassische Werkaufbauprinzip HW/RP/BW/Ped ist längst wieder aufgegeben. Größere Orgeln ohne ein Schwellwerk sind kaum mehr denkbar. Die Teilwerke der Orgel disponiert man so, dass
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die meisten Stilepochen der Orgel‐ kultur interpretierbar sind und auch der Avantgarde neue Entfaltungs‐ möglichkeiten geboten werden: Man baut wieder unharmonische Obertonregister, Schwebungen, ja auch die als orgelfremd verpönten Perkussionsregister wie Xylophon, Röhrenglocken und Stabspiele. Die Intonation wird betont weich, sehr zart und um jeden Preis kultiviert ausgeführt. Die Register und Spiel‐ hilfen baut man wieder mit elek‐ trischer Steuerung und macht sich die elektronische Datenspeicherung in den freien Kombinationen zunut‐ ze. Noch gilt es, einige Vorurteile zu überwinden. Bei sehr großen Orgeln z. B ist die mechanische Spieltraktur ein Unding. Orgeln, die man vor 20 Jahren versuchsweise mit mechani‐ scher und elektrischer Tastensteue‐ rung versehen hat, werden bezeich‐ nenderweise von den Konzertorga‐ nisten bevorzugt vom elektrischen Spieltisch aus gespielt (z. B. Marien‐ Beispiel eines beweglichen Zweitspieltisches Klais-Orgel im Altenberger Dom (1980, IV/P/89) orgel Ottobeuren). Die mechanische Tastensteuerung ist von den Orgel‐ beweglern eben stark überschätzt worden. Bei elektrischer Tastensteuerung ist zudem der Aufbau und die Platzierung der Einzelwerke bei großen Orgeln wesentlich einfacher. Der bewegliche Spieltisch, in einigen Metern Abstand von der Orgel aufgestellt, gibt dem Orga‐ nisten außerdem mehr Klangkontrollmöglichkeiten. Auch ein Rückpositiv, das ja historisch aus den Schwierigkeiten der mechanischen Traktur‐ führung entstanden ist und dem man erst später musikalische Notwendigkeit angedichtet hat, ist nicht immer sinnvoll, da es gerade als „Gegenwerk“ oft seine Existenzberechtigung verloren hat. Ein Chorpositiv ist für die Musizierpraxis meist viel wichtiger. Das Große an der Entdeckung der Geschichtlichkeit der Orgel und der daraus gezogenen Konsequenzen der „Orgelbewegung“ war doch die Abkehr von einer naiv‐selbstzufriede‐ nen Klangsattheit und auch eines – trotz aller Technik – gewissen Dilettantismus im Orgelbau: Eine große Tradition drohte in einem Wust oberflächlichen Sentiments unter‐ zugehen.
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Dass hier ursprüngliche Konturen neu erspürt und von einem seichten, alles verwischen‐ den und nivellierenden „Flugsand“ freigefegt wurden, bleibt das wesentliche Verdienst der „Orgelbewegung“. Recht verstanden soll die Kritik an der „Orgelbewegung“ und ihren manchmal zweifelhaften Ergebnissen ihr nichts von ihrer geschichtlichen Größe nehmen, sondern sie gerade eben als geschichtliche Größe begreifen und ihren ganz und gar ungeschichtlichen Absolutheitsanspruch in die Schranken verweisen. Während die Orgel in ihrer hier zum Vorbild genommenen Barock‐Blütezeit ein universales Instrument sein wollte, ja sogar den Versuch machte, den klanglichen Kosmos ihrer Umwelt widerzu‐ spiegeln und in den Gottesdienst einzubringen, wurde sie durch die „Orgelbewegung“ auf diese ganz bestimmte historische Epoche ihrer Entwicklung fixiert. Damit aber wurde, nach einem kurzen, schöpferischen kompositorischen Aufbruch (David, Distler, Pepping, Micheelsen) wiederum eine Epoche der Nivellierung und Gleichmacherei eingeleitet, die bei den wahrhaft schöpferischen Kräften (und bei den Hörern) nur eine zunehmende Gleichgültigkeit gegenüber Orgel und Orgelmusik auslösen konnte. Durch die Rückwen‐ dung zum Orgelklang des 17. Jahrhunderts und zur Musik dieser Zeit sind wir festgefahren im Historischen. Unsere neuen Klangvorstellungen werden aber auch heute noch weit‐ gehend vom Orchester geprägt. An ihm muss sich deshalb die Klangqualität einer zeitge‐ nössischen Orgel messen lassen. Den Blick dafür hat die „Orgelbewegung“ aber mit ihrer pauschalen Verdammung der spätromantischen „Orchesterorgel“ verstellt. Sie übersah dabei, dass es von Anbeginn enge Beziehungen zwischen Orgel‐ und Orchesterklang gab. Ihr Drang „zurück zu den Quellen“ führte sie dazu, die Orgel auf den Orchesterklang des 17./18. Jahrhunderts einzufrieren. Gerade in dieser Hinsicht aber (nämlich die Orgel als „Orchesterersatz“) war der romantische Orgelbau echt und völlig orgelmäßig (siehe hierzu Michael Praetorius „De Organographia“ 1619, und Dom Bedos „L'art du facteur d'orgues“ 1778). Daneben beweisen auch die vielen, den damaligen Instrumenten entlehnten Register‐ namen das barocken Orgelbaus, wie sehr dieser das zeitgenössische Instrumentarium, das zeitgenössische „Orchester“ nachzuahmen suchte. Die bedingungslose Forderung nach mechanischer Spieltraktur teilen heute längst nicht mehr alle Spieler: „Der Spieler ist mehr von seiner Spieltechnik als von der Traktur abhängig, die, soweit betriebssicher, ganz einfach Gewöhnung ist.“ (Wolfgang Dallmann, in: „Der Kirchenmusiker“ V/1963/S.190) Auch eine Umfrage unter namhaften französischen Organisten über ihre Einstellung zur Traktur ergab, dass viele sich für eine elektrische Traktur bei Orgeln über 50 Registern aussprachen, im Übrigen eine technisch einwandfreie funktionierende Orgel erwarten, gleichgültig welche Traktur (vgl. „Ars Organi“ Febr. 1964). Viele Interpreten unserer Zeit setzen sich mehr und mehr mit der französischen Orgelmusik auseinander und beginnen von daher, Forderungen an den Orgelbau zu stellen. „Die“ Orgel schlechthin, auf der man alle Epochen stilgerecht darstellen kann, gibt es ohnehin nicht und hat es nie gegeben. Die „Orgelbewegung“ unseres Jahrhunderts hat gezeigt, dass es nicht richtig ist, eine ideali‐ sierte Vergangenheit gegen die Situation der Gegenwart auszuspielen. Man sollte vielmehr versuchen, bei der Konzeption neuer, im wahrsten Sinn des Wortes universaler Instru‐ mente, hier den rechten Ausgleich zu finden.
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Die Klaviaturumfänge und -anordnungen historischer Orgeln ____________________________________________________________ Betrachten wir die Dispositionsangaben der Orgeln dieses Heftes, fallen besonders die abweichenden Klaviaturumfänge der Instrumente auf. Der uns heute geläufige Tasten‐ umfang ist chromatisch C‐g3 oder a3 oder c4 in den Manualen, chromatisch C‐f1 oder g1 im Pedal. Wegen des hohen Preises der großen Pfeifen in der tiefsten Oktave ließ man früher jedoch oft die Halbtöne dieser tiefen Oktave fort, da sie wenig benutzt wurden oder als Basstöne nur in Tonarten gebraucht wurden, die wegen der alten Stimmungen (z. B. mittel‐ tönig) in keiner der damaligen Kompositionen verwendet wurden (z. B. Tonarten mit mehr als vier Vorzeichen). Dabei sind verschiedene Anordnungen zu unterscheiden: In der großen Oktave fehlt Cis (fast immer in mitteldeutschen Orgeln des 18. Jahrhunderts, z. B. bei Gottfried Silbermann): Große Oktave ohne Cis
In der großen Oktave fehlen Cis und Dis. Dabei finden sich zwei verschiedene Tastenanordnungen in dieser „verkürzten Oktave“: entweder C‐D‐E als Untertasten oder C auf Untertaste D, D auf Obertaste Dis, E als Untertaste E. Die letztere Bauweise verwandte z. B. Arp Schnitger in fast allen seinen Pedalklaviaturen:
Große Oktave ohne Cis und Dis = „Verkürzte Oktave“
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Am häufigsten findet sich die „kurze Oktave“ (z. B. Steinkirchen). Hier fehlen in der unteren Oktave die Tasten und Töne Cis, Dis, Fis und Gis. Diese Anordnung macht in der Unteroktave Dezimengriffe möglich und ist in den Orgeln des 17. Jahrhunderts fast der Regelfall.
„Kurze Oktave“
Gegen Ende des 17. Jahrhunderts ist die Einbeziehung von Fis und Gis oberhalb der (geteilten) Obertasten in dritter Ebene als „gebrochene Oktave“ zu beobachten (bei Schnitger nur in Cappel und Norden; häufiger im österreichischen Orgelbau): „Gebrochene Oktave“
Bei den Umfangs‐Obergrenzen ergeben sich die größten Unterschiede im Pedal. Hier gab es eine Vielfalt sondergleichen, die wohl auf die unterschiedlichen Ansprüche der Auftraggeber wie auch auf räumliche und finanzielle Voraussetzungen zurückzuführen sind. Vom 16. bis 19. Jahrhundert kommt als Obergrenze fast jede Untertaste im Pedal zwischen c° und f1 in Frage. Als Manualobergrenze kann im 17./18. Jahrhundert durchweg c3 angenommen werden, vereinzelt ist in der ersten Hälfte des 18. Jahrhundert d3 zu finden, das sich aber erst nach 1750 durchzusetzen beginnt. Nach 1800 wird f3 gebräuchlich, g3 erst seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts.
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Cappel (St.-Peter-und-Paul-Kirche) ____________________________________________________________
Die Kirche Die St.‐Peter‐und‐Paul‐Kirche steht auf einer Kirchenwarft des 13. Jahrhunderts im Orts‐ zentrum. Der im 15. Jahr‐ hundert erbaute Kirchturm einer im 12. Jahrhundert er‐ richteten Kapelle wurde auch als Seezeichen für die Schiffe in der Wesermündung zur Nordsee gebraucht. Zu die‐ sem Zweck trug der Turm der Kirche damals weiße Ringe. Das Kirchengebäude wurde Cappel: St. Peter und Paul im Dezember 1810 durch einen Brand zerstört und 1815/16 als klassizistischer Saalbau wieder aufgebaut. Der Raum wird von einer Segmentbogendecke überspannt. Der klassizistische Kanzelaltar ist typisch für viele Kirchen dieser Zeit im ehemaligen Königreich Hannover. Vom Vorgängerbau des 15. Jahrhunderts sind noch der Westturm und eine Reihe von Grabplatten an der östlichen Außenwand (16. Jahrhundert) erhalten.
Die Orgel Die Orgel wurde 1680 von Arp Schnitger für die Dominikaner‐Klosterkirche St. Johannis in Hamburg gebaut. Diese Kirche musste 1829 wegen Baufälligkeit abgebrochen werden. Bereits 1816 wurde die Orgel an die Gemeinde in Cappel verkauft und hier durch den Stader Orgelbauer Johann Georg Wilhelmy aufgestellt. Durch eine Unachtsamkeit des Organisten war hier in Cappel 1810 die erst neun Jahre alte Vorgängerorgel samt Kirche in Flammen aufgegangen. Aus Geldmangel konnte sich die Gemeinde zunächst nach dem Wiederaufbau der Kirche keine neue Orgel leisten und erwarb so aus der Hamburger Klosterkirche St. Johannis die Schnitger‐Orgel, ohne zu ahnen, welche Kostbarkeit diese darstellte. Seitdem hat das Instrument hier in der Abgeschiedenheit einen langen Dorn‐ röschenschlaf gehalten. Sie ist im 19. Jahrhundert gottlob nicht dem Zeitgeschmack ange‐ glichen worden, sondern hat ihre alte Klangpracht erhalten. Als man während der „Orgel‐ bewegung“ den hohen Wert dieses Instrumentes erkannte, wurden seit 1939 in verschie‐ denen Etappen Restaurierungen durch Paul Ott (Göttingen) vorgenommen. 1965 sind durch unsachgemäßes Heizen bei Bauarbeiten in der Kirche die Windladen so sehr in Mit‐ leidenschaft gezogen, dass eine erneute Wiederherstellung durch Rudolf von Beckerath 1976/77 notwendig wurde. Das Instrument verfügt über 30 Register auf zwei Manualen und Pedal, von denen nur zwei nicht vollständig erhalten sind.
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Textergänzung 202Ϯ Die Schnitger‐Orgel in Cappel gilt als die vollständigste und klanglich besterhalte‐ ne historische Orgel aus dem späten 17. Jahrhundert in Norddeutschland. Der Vertragsabschluss mit der Hamburger Klosterkirche St. Johannis erfolgte ver‐ mutlich 1679. Schnitgers eigenhändiger Dispositionsentwurf wurde 1989 in Basedow wiederentdeckt. Von April bis Dezember 1680 wurde die Orgel mit Hauptwerk, Rückpositiv und Pedal in neun Monaten in Schnitgers Stader Werkstatt gebaut. Das Pedal erhielt sei‐ nen Platz direkt hinter dem Hauptwerk‐ Gehäuse, das keine Rückwand aufwies. Schnitger übernahm zehn Register aus der Vorgängerorgel, einem Instrument eines unbekannten Erbauers aus der Spätrenaissance (vermutlich aus dem Jahr 1567). Die relativ breiten Gehäuse von Hauptwerk und Rückpositiv sind fünfachsig und entsprechen sich in der Cappel: Schnitger-Orgel 1680 Form. Der jeweils überhöhte polygonale Mittelturm wird mit den seitlichen Spitztürmen durch zweigeschossige Flachfeldern ver‐ bunden, in denen stumme Pfeifen aufgestellt sind. Die Seitentürme und Flachfelder der beiden Manualwerkgehäuse werden unter einem gemeinsamen Kranzgesims im Komposit‐ stil vereint. Aufwendig gestaltete Konsolen vermitteln zu dem schmaleren Untergehäuse mit dem Spieltisch. Das Schnitzwerk schuf der Hamburger Bildhauer Christian Precht. Im Rankenwerk der Schleierbretter sind im Hauptwerk ausschließlich florale Elemente, im Rückpositiv neben Blüten und Früchte auch Fratzen und stilisierte Tierköpfe und im Unter‐ zug des Rückpositivs drei Engelsköpfe eingearbeitet. Die zinnernen Prospektpfeifen sind neben denen aus Oederquart (Landkreis Stade) die einzigen von Schnitger, die vollständig erhalten sind und 1917 nicht für Rüstungszwecke abgeliefert werden mussten. Sie haben einen eleganten und obertonreichen Klang. Die polyphon konzipierten Mixturen spiegeln die Tradition der Renaissance‐Mixturen ohne hohe Chöre im Diskant wider. Aufgrund des Reichtums an gemischten Stimmen sind vielfältige Plenumklänge möglich. Dass Schnitgers Pedalmixtur (mit einem Terzchor) erhalten blieb, ist ungewöhnlich, da sie bei anderen Schnitger‐Orgeln in der Regel dem Zeitgeschmack entsprechend später ersetzt wurden. Bemerkenswert ist auch die chroma‐ tische Aufstellung der Pfeifen auf der hinten frei stehenden Pedallade, die sich durch die Schräge der Westmauer in St. Johannis erklärt. Dass Schnitger Zungenregister aus älteren
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Instrumenten übernommen hat, ist ansonsten ungewöhnlich. Insgesamt ist die originale Intonation Schnitgers weitgehend erhalten und wurde nicht wesentlich durch Umarbei‐ tungen und Restaurierungen verändert. Im Zuge der französischen Besatzungszeit zu Beginn des 19. Jahrhunderts diente die Kloster‐ kirche als Magazin. Die Orgel wurde 1813 von Joachim Wilhelm Geycke abgebaut und ausgelagert und die Johanniskirche 1829, wenig später auch das Kloster, abgerissen. Eine Cappeler Delegation reiste am 16. Juni 1816 nach Hamburg, um die Orgel abzuholen. Das Instrument wurde in Holzkisten verpackt und von Hamburg nach Cuxhaven mit dem Schiff transportiert. Mit Johann Georg Wilhelm Wilhelmy (Stade) schloss man einen Kontrakt, in dem er sich verpflichtete, die Orgel für 385 Reichstaler in Cappel wieder aufzubauen und einzurichten. Zusätzlich wurde Wilhelmy beauftragt, einen Zimbelstern einzubauen. Aufgrund der niedrigeren Deckenhöhe gegenüber Hamburg konnten die Christus‐ und Engelfiguren nicht mehr auf dem Hauptwerk platziert werden und fanden fortan auf dem Kanzelaltar Verwendung. Seitdem weist Johannes der Täufer, die mittlere Figur auf dem Rückpositiv, mit seinem Zeigefinger nicht mehr auf die Christusfigur, sondern ins Leere. 1890 ersetzte der Stader Orgelbauer Johann Hinrich Röver die Balganlage Schnitgers durch drei große Keilbälge, die in der Bauweise denen von Schnitger ähnelten und eine vergleich‐ bare Windversorgung garantierten. Bis 1927 wurden das Instrument durch verschiedene Orgelwerkstätten aus Stade gewartet, ohne dass Eingriffe in die Substanz erfolgten. Im Jahr 1928 wies Christhard Mahrenholz in einem Gutachten auf die besondere Bedeu‐ tung der Orgel hin und empfahl eine Renovierung und Instandsetzung der zwischenzeitlich stillgelegten Register. Im Jahr 1932 baute die Orgelwerkstatt P. Furtwängler & Hammer ein elektrisches Gebläse ein. Ab 1939 erfolgte eine erste Instandsetzung durch Paul Ott, der auch 1950‐1952 die Orgel bei den Aufnahmen von Helmut Walcha betreute. Walcha spielte in diesen beiden Jahren hier die Orgelwerke Bachs auf Schallplatten ein und machte das Instrument damit weithin berühmt. 1976/1977 wurde die Orgel von Rudolf von Beckerath Orgelbau (Hamburg) nach Heizungs‐ schäden instandgesetzt und die historische Substanz gesichert. Die seit 1816 bestehende gleichstufige Temperatur wurde beibehalten. Im Pedalregister Cornet 2′ musste die obere Oktave ergänzt werden, da das Register zwischenzeitlich als Trompete 4′ umgesetzt worden war. Die Cimbel des Haupt‐ werks wurde in der ursprüng‐ lichen Zusammensetzung er‐ gänzt. Im Jahr 2009 wurde die Balganlage von der Werkstatt Beckerath restauriert und die Cappel: Spielanlage der Schnitger-Orgel von 1680 Kirchenrückwand saniert.
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Cappel (St. Peter und Paul) Disposition seit 1939 = 1680 S = Schnitger 1680, V = vor Schnitger 1567, B = Beckerath 1977, II/P/30 Hauptwerk (II) CDE-c3 *) Quintadena 16' V Prinzipal 8' S Hollfloit 8' V Oktave 4' V Spitzfloit 4' S Nasat 3' V Gemshorn 2' V Rauschpfeife 2f S Mixtur 5-6f S Zimbel 3f S/B Trompete 8' V
Rückpositiv (I) CDE-c3 *) Gedackt 8' V Quintadena 8' S Prinzipal 4' S Floit 4' S (Rohrflöte) Oktave 2' S Siffloit 1 1/3' S (zyl. weit) Sesquialtera 2f S C: 1 1/3' + 4/5' Terzian 2f Scharff 4-6f Dulzian
S S 16' S
c°: 2 2/3' + 1 3/5' 1 1/3' +1 3/5'
Pedal CD-d1 Untersatz 16' V Oktave 8' V Oktave 4' S Nachthorn 2' S Rauschpfeife 2f S (2 2/3' + 2') Mixtur 4-6f S Posaune 16' S Trompete 8' V Cornet 2' S/B
*) mit gebrochener unterer Oktave (Fis und Gis auf geteilten Obertasten, siehe Abbildung unten und Abbildung Seite 27) Manual-Schiebekoppel RP/HW Mechanische Spiel- und Registertraktur Tremulant, Zimbelstern 3 Keilbälge (Röver), 3 Sperrventile (Schnitger) Stimmung: gleichstufig (seit 1816), Tonhöhe: 3/5-Ton über normal Winddruck: 68 mm WS Alle Windladen von Schnitger (Eiche) Klaviaturen: Schnitger (Manuale), Beckerath (Pedal)
geteilte Obertasten Fis und Gis Cappel (St. Peter und Paul): Schnitger-Orgel: „gebrochene“ untere Oktave in den Manualklaviaturen Taste E=C, Taste Fis=D, Taste Gis=E, Taste F=F, ab hier weiter über die geteilte Obertaste Fis=Fis auf dritter Ebene, Untertaste G=G, geteilte Obertaste Gis=Gis, ab A chromatisch normal weiter
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Altenbruch (St.-Nicolai-Kirche) ____________________________________________________________ Die Kirche Die St.‐Nicolai‐Kirche im Cuxhavener Stadtteil Altenbruch gehört zur ev.‐lutherischen Kirche und ist einer der „Bauerndome“ im Land Hadeln. Sie steht auf einer flachen Land‐ erhebung, einer Wurt, so dass sie bei Überflutungen meistens im Trockenen blieb und den umliegend lebenden Menschen eine Zuflucht bot. Diese Landerhebung war von einem Graben umschlossen. Die heutige Wiese um die Kirche war in früheren Zeiten der Friedhof. Die geborgenen Grabplatten werden in der Kirche vor der Verwitterung bewahrt und ausgestellt.
Altenbruch: Südseite der St.-Nicolai-Kirche
Der Baukörper dieser Kirche bietet sich als eine reizvoll gegliederte Baugruppe dar: der blockhafte Sockel der Turmfront, dem die schlanken hochaufragenden Doppeltürme ent‐ wachsen, das langgestreckte niedrige Kirchenschiff und als Kontrapunkt zu den Westtürmen ein kräftiger hoher Chorbau unter ausladendem Walmdach. Südlich der Turmfront wurde 1642 der hölzerne Glockenturm errichtet. Der Ursprungsbau aus dem Ende des 12. Jahr‐ hunderts aus lagerhaftem Granit‐Feldsteinmauerwerk ist noch in großen Teilen des Lang‐ hauses und im Sockel der Westfront erhalten. Die ursprünglichen, romanischen Fenster waren mit Tuffsteingewänden eingefasst. Sie sind zum größeren Teil gotisch oder barock erweitert. Im 15. Jahrhundert wurden die Langhauswände erhöht und der weite Hallenchor aus Ziegelstein gebaut; der Chor wurde 1727 erneuert. Der Innenraum ist von einer lang durchlaufenden Tonne überwölbt. Im Inneren sind Schiff und Chor durch eine barocke Schranke getrennt. Deren reicher Portalaufbau trägt die um 1600 entstandene Kanzel, die mit Reliefszenen aus dem Alten und Neuen Testament geschmückt ist. Die Choremporen wie auch die Schranke entstammen
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der ersten Hälfte des 18. Jhdts. Der Kreuzigungsaltar (um 1500) stellt im betonten Mittelfeld figurenreich geschnitzt die Kreuzigung dar, auf den Flügeln finden sich vier Schnitz‐ bilder aus der Passionsgeschichte, auf den Rückseiten gemalte Bilder aus der Heilsgeschichte (Anfang des 17. Jhdts.). Predella und Bekrönung des Altars, wie auch die farbige Fassung wurden 1897 erstellt. Der bronzene Taufkessel (Anfang des 14. Jhdts.) hatte seinen ursprüng‐ Altenbruch: St. Nicolai lichen Platz auf einer ringförmig gemauerten Stufenanlage in der Mittelachse des westlichen Mittelschiffes – eine Reminiszenz an eine frühchristliche Anordnung der Taufe; über der „Fünte“ (norddtsch. für Taufbecken) ein reich geschnitzter Taufdeckel von 1672. Das ehemalige Triumphkreuz vom Ende des 14. Jahrhunderts findet sich heute auf der Südwand. Von dem reichen Gestühl mit teilweise noch gotischen, größtenteils aber barocken Wangen und Türen heben sich besonders die Kniebänke beiderseits des Altares und die protestantische Beicht‐ kammer an der Nordostecke des Chores (1706) hervor. Im Westteil des Kirchenschiffes hängen zahlreiche Tafelbilder von Evangelisten, Aposteln und Propheten.
Die Orgel Die Orgel der St.‐Nicolai‐Kirche zu Altenbruch ist während eines Zeitraumes von mehr als 200 Jahren entstanden: 1497‐98 erbaute Johannes Coci aus Bremen auf der Nordseite des Chorraumes ein einmanualiges Instrument mit sechs Registern. Diesem wurde bereits um 1561 ein Rückpositiv als zweites Manual und noch vor 1621 ein selbständiges Pedal hinzugefügt durch Matthias Mahn aus Buxtehude. Wesentliche Umbauten und Vergröße‐ rungen erfolgten 1647‐49 durch Hans Christoph Fritzsche (Erweiterung des Hauptwerks) und 1697‐99 durch Matthias Dropa (Erweiterung der Klaviaturumfänge). Nach einem Umbau der Kirche verlegte Johann Hinrich Klapmeyer aus Glückstadt (der wie Dropa bei Arp Schnitger gelernt hatte) 1727-30 die Orgel auf die neue Westempore und gab ihr die heutige Gestalt. Dabei übernahm er das Rückpositiv aus der alten Orgel fast unverändert und legte zwei neue Pedaltürme sowie ein neues Hauptwerk mit darunter‐ liegendem Brustwerk an. Auffallend ist, dass im Prospekt drei achtfüßige Prinzipale stehen. Dadurch aber, dass der Prinzipal im Hauptwerk mit C, im Rückpositiv mit F beginnt und Klapmeyer in den Pedal‐ türmen beträchtliche Überlängen anwandte, wirkt der Prospekt doch lebendig, zumal er mit kunstvollen Schnitzereien verziert ist, deren Ausmalung durch J. A. von Arnold 1733 erfolgte.
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Altenbruch (St. Nicolai): Klapmeyer-Orgel 1730
Im Verlauf der nächsten 200 Jahre ist die Orgel nicht wesentlich verändert worden. Im Jahre 1925, gleich zu Beginn der Orgelbewegung, fand eine gründliche Überholung durch die Orgelbaufirma Karl Kemper (Lübeck) unter Beratung von Hans Henny Jahnn statt, bei der aber die klangliche Eigenart des Werkes nicht angetastet wurde. Bei einer weiteren Erneuerung in den Jahren 1956‐58 durch die Werkstatt Paul Ott (Göttingen) wurde der Winddruck so weit heruntergesetzt, dass fast sämtliche Aufschnitte der Labialpfeifen erniedrigt und die Zungen erneuert werden mussten. Die Tonhöhe, die ursprünglich fast einen Ganzton über normal lag, betrug nur noch einen Halbton über normal; Windladen und Regierwerk wurden zu einem Großteil erneuert. Aus heutiger Perspektive wird diese Erneuerung als missglückt betrachtet. Bei der letzten Restaurierung durch Rudolf von Beckerath (Hamburg) in den Jahren 1965‐67 wurde ein Großteil dieser eingreifenden Veränderungen rückgängig gemacht.
Textergänzung 2022 Die jüngste Restaurierung erfolgte 2003‐04 durch die Werkstatt Jürgen Ahrend aus Leer, die den klanglichen Zustand von 1730 weitestgehend wiederherstellte. Da die Orgel trotz der vielen Erweiterungs‐Umbauten ihren alten Pfeifenbestand bewahrte, zählt diese Klapmeyer‐Orgel zu den ältesten Orgeln nördlich der Alpen und ist eines der bedeutenden Instrumente Europas. Die Orgel verfügt über 2.100 klingende Pfeifen, drei Manuale, Pedal
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und 35 Register, die fast vollständig original erhalten sind. Das Instrument wurde 2017 in einer virtuellen Version für die Orgelsoftware „Hauptwerk“ veröffentlicht. Altenbruch (St. Nicolai), Disposition seit 2004: Fritzsche 1649, Dropa 1699, Klapmeyer 1730, Ahrend 2004, III/P/35 Hauptwerk (II) CDEFGA-c3 Quintadohn 16' F/C Prinzipahl 8' F ab C im Prospekt Gedackt 8' F Octav 4' F Waldflöt 2' F Mixtur 5f F Zimbel 3f F Trommeth 8' K Vox humana 8' K
Rückpositiv (I) CDEFGA-c3 Prinzipahl 8' V ab F im Prospekt Gedackt 8' F/C CDE mit Quint. 8' Quintadöhn 8' F Octav 4' V/D Gedackt 4' F Nasat 3' V zylindrisch Super Octav 2' D Blockflöt 2' V konisch Sexquialtera 2f F C-H: 1 1/3' + 4/5', ab c°: 2 2/3' + 1 3/5'
Scharff 4f Dulzian Kromphorn Brustwerk (III) CDEFGA-c3 Gedackt 8' K Eichenholz Gedackt 4' K Super Octav 2' K Quint 1 1/2' K Scharff 3f K Knop Regal 8' K
F 16' F 8' F/D
teilw. neu teilw. neu
Pedal CDE-d1 (D als Obertaste) Untersatz 16' V/C Prinzipahl 8' K vollständig im Prospekt Gedackt 8' D Octav 4' D Mixtur 4f 2' D Posaun 16' F/D Trommeth 8' F/D Corneth 2' A
C = teils aus Pfeifenmaterial von Johannes Coci (1497-1498) V = vor 1647 F = Hans Christoph Fritzsche (1647-1649) D = Matthias Dropa (1697-1697) K = Johann Hinrich Klapmeyer (1727-1730) A = Jürgen Ahrend (2003-2004) Mechanische Spiel- und Registertraktur Sperrventile Hauptwerk, Rückpositiv, Brustwerk, Pedal Manual-Schiebekoppel BW/HW Tremulant für Rückpositiv, Tremulant für ganze Orgel Zwei Zimbelsterne Tonhöhe: a1 = 478 Hz Modifizierte Werckmeister-Simmung Winddruck: 77 mm WS Vier Bälge (ursprünglich acht)
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Altenbruch (St. Nicolai): Spieltisch
Otterndorf (St.-Severi-Kirche) ____________________________________________________________ Die Kirche Otterndorf war ursprünglich Fischerdorf, dann Kaufmannssiedlung und erhielt seit dem Ende des 14. Jahrhunderts Stadtrechte. Der Ort ist auf einer ovalen, bis zu sieben Meter hohen Wurt errichtet, in deren Zentrum die Kirche und am Nordwestrand das herzogliche Schloss liegt. Seit dem Ende des 16. Jahrhun‐ derts ist Otterndorf wirtschaftliches und poli‐ tisches Zentrum des Landes Nadeln. Die im Kern mittelalterliche Substanz der Kirche St. Severus und Nicolaus ist durch zahlreiche spä‐ tere Veränderungen kaum noch erkennbar. Noch sehr einheitlich zeigt sich der 1585 errichtete dreischiffige, flach schließende Hallenchor von 3 x 3 Kreuzrippengewölben, die auf vier kräftigen Rundpfeilern ruhen. 1739/40 wurden alle Außenwände in Back‐ stein verblendet, die Fenster vergrößert und segmentbogig erneuert. Der Westturm wurde 1806, der Pyramidenhelm 1876 gebaut. Otterndorf: St-Severi-Kirche Das Schiff ist von einer großen Holztonne überwölbt. Die außerordentlich reiche Ausstattung konzentriert sich besonders auf den Chorbezirk und sein prächtiges, hochbarockes Altar‐ retabel (1664) in zweigeschossiger Komposition mit bekrönendem Aufbau. Es zeigt Gemälde von Abendmahl, Kreuzigung und Himmelfahrt mit flankierenden Vollfiguren: Adam und Eva und die Evangelisten. Das Ganze ist gerahmt von fantasievoller Knorpelwerkornamentik. Das Bronzetaufbecken stammt aus der Mitte des 14. Jahrhunderts. Zwischen Chor und Schiff, in der südlichen Bogenöffnung, gibt es eine Verbindungsempore zur Kanzel, den „Lektor“ aus dem Jahre 1644. In den Brüstungsfeldern stehen Vollfiguren von Propheten, Aposteln und Evangelisten. Der polygonale Kanzelkorb wird von einer Moses‐Figur getragen. Die Nordempore im Chor, der „Fürstenlektor“, stammt aus dem Jahre 1615. Der Pastoren‐ stuhl von 1661, mit reichem Figuren‐ und Ornament‐ schmuck, ist ein bedeutendes
Otterndorf: St.-Severi-Kirche
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Werk der norddeutschen Renaissance. Aus dem 18. Jahrhundert ist auch das Gemeinde‐ gestühl mit barockem Schnitzwerk erhalten. Das Bild des Schiffes wird entscheidend durch die ausgedehnten Emporen bestimmt: Auf der Nordseite der „Männerlektor“ (1642), zwischen Nord‐ und Westempore der „Hohe Stuhl“ (1731) mit gemalten Szenen aus dem Leben Jakobs auf der Brüstung. Die Brüstungsfelder der unteren (1660) zweigeschossigen Westempore sind mit biblischen Gestalten verziert. Auf der oberen, jüngeren Empore (1742) steht die Orgel. Neben zahlreichen Grabsteinen und Epitaphien ist ein bemerkens‐ wertes Doppelbildnis von Luther und Melanchthon (1587) erhalten. Von den Kronleuchtern entstammen noch drei Renaissanceleuchter aus dem 16. Jahrhundert.
Die Orgel Die Orgelgeschichte in Otterndorf beginnt 1553 nachweislich mit einem Orgelneubau im Chorraum der Kirche, ausgeführt von dem damals bedeutenden Orgelbauer Matthias Mahn aus Buxtehude. Bereits drei Jahrzehnte später bekommt Antonius Wilde aus Ottern‐ dorf den Auftrag, eine neue Orgel zu errichten, die er 1596 vollendet. Ein großer Umbau der alten Orgel durch Hans Riege aus Hamburg wird 1662 beendet und durch Heinrich Scheidemann geprüft. Nach einer Neugestaltung des Langschiffs der Kirche errichtet der Stader Orgelbauer Dietrich Christoph Gloger 1741/42 auf der neuen oberen Empore die heutige Orgel mit 46 Registern auf drei Manualen und Pedal unter Verwendung noch brauchbarer Stimmen der Vorgängerorgeln von Wilde und Riege. Gloger wurde um 1705 geboren, genoss in der Bürgerschaft seiner Heimatstadt Stade hohes Ansehen, starb 1773 und wurde in der dortigen St.‐Wilhadi‐Kirche begraben. Die Gloger‐Orgel in Otterndorf ist damals wie heute die größte Barockorgel zwischen Elbe und Weser. Otterndorf (St.-Severi-Kirche): Gloger-Orgel 1742
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Im 19. Jahrhundert wurden mehrere alte Register gegen „moderne“ ausgetauscht und z. T. in der Orgel gelagert. Wie bei so vielen Orgeln wurden 1916 auch hier die zinnernen Prospektpfeifen für Kriegszwecke eingeschmolzen. 1936 wurde das Instrument durch die Werkstatt Emil Hammer (Hannover) überarbeitet und gravierend umgebaut. 1969 erfolgte eine technische Sanierung durch die Werkstatt Alfred Führer (Wilhelmshaven), wobei die Spieltraktur erneuert und die Registertraktur überarbeitet wurde. 1978 restaurierte Führer die Windladen und erhöhte den Winddruck von 70 auf 79 mm WS. Außerdem erfolgte eine Überarbeitung der Klaviaturen, Stilllegung der Koppel HiW/HW, Einbau eines neuen Gebläses und neuen Windkanals sowie eine Reinigung und Neuintonation der Orgel.
Textergänzung 2022 Nachdem sich die Orgel über viele Jahre in einem katastrophalen Zustand befand, wurden im Juni/Juli 2013 eine Reinigung und Reparatur der Orgel durch die baden‐württembergi‐ sche Werkstatt Jens Steinhoff (Schwörstadt bei Bad Säckingen) durchgeführt. Priorität hatte hierbei die Sicherung der historischen Substanz. Neben einer Ausreinigung wurden viele historische und neuere Pfeifen repariert und klanglich optimiert, so dass die wert‐ volle klangliche Grundsubstanz der Orgel einigermaßen angemessen erlebbar ist. Diese Arbeiten waren notwendig, um das Instrument bis zu einer umfassenden Restaurierung spielbar zu halten. Von den heute insgesamt 46 Registern enthalten noch 21 eine historische Pfeifensubstanz, die Gloger seinerzeit übernahm. Heute, acht Jahre später, ist es weniger das Alter der Gloger‐Orgel, das für viele neue Probleme sorgt. Die Gründe liegen vor allem in den misslungenen Überarbeitungen des 20. Jahrhunderts. 1936 baute man zusätzliche Töne im Pedal ein und sortierte die Register neu. Um den neuen Pfeifen Platz zu machen, wurden die historischen Pfeifen umgestellt und gänzlich verändert: Sie wurden verkürzt, mit falschem Material verlängert und dilettantisch repariert. Heute stehen sie so eng, dass der Ton nicht genug Raum hat, um sich zu entfalten. Jenseits vieler oberflächlicher Schäden an Gehäuse und Spieltisch besteht darüber hinaus substanzielle Gefahr für die gesamte Orgel: Die komplette Konstruktion ist instabil, weil tragende Teile des Gehäuses 1936 entfernt wurden. Schimmelpilz hat sich im Inneren des Instruments breit gemacht und Materialien wie Holz und Leder befallen. Problematisch sind auch die vielfach verwendeten Kunststoffkleber, die sich zunehmend zersetzen und die historische Substanz angreifen. Zur Rettung der Orgel muss das gesamte Instrument in seine Einzelteile zerlegt und umfas‐ send dokumentiert werden. Allein tausend Pfeifen stammen noch aus der Renaissance‐ und Barockzeit und bedürfen einer besonders gewissenhaften Restaurierung. Alle Elemente, von der fünf Meter langen Prospektpfeife bis zu den schweren Windladen, müssen in eine spezialisierte Orgelwerkstatt gebracht werden. Die komplette Restaurierung erfolgt in Hand‐ arbeit mit natürlichen Materialien und Techniken, die bereits vor gut 300 Jahren existierten. Diese Arbeit wird sich über mehr als ein Jahr erstrecken, die Wiederherstellung des Gehäu‐ ses und die Neuintonation der Pfeifen noch nicht mitgerechnet. Die Werkstatt Jürgen Ahrend (Leer) wurde im Frühjahr 2021 mit dieser umfassenden Restaurierung beauftragt.
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Otterndorf (St.-Severi-Kirche) Gloger 1742, III/P/46 Hauptwerk (I) C-c3 Quintadena 16' Gl Prinzipal 8' H Gedackt 8' vor 1662 Octav 4' Gl Gedacktflöte 4' Gl Quinte 3' Gl Octave 2' Gl Gemshorn 2' H Rauschpfeife 2f H Mixtur 4f alt Trompete 16' alt/H Trompete 8' Gi Pedal C-f1 Prinzipal Subbass Octav Octav Nachthorn Weidenpfeife Mixtur 3f Posaune Dulzian Trompete Trompete Cornett
16' 16' 8' 4' 2' 1' 16' 16' 8' 4' 2'
H um 1600 alt Gl H H H alt/H H alt/H H H
Hinterwerk (II) C-c3 Quintadena 8' Gl Bartpfeife 8' H Octav 4' Gl Spitzflöte 4' alt Quinte 3' Gl Octav 2' Gl Spitzflöte 1 1/2' H Terzian 2f H Scharf 4f H Fagott 16' Gi Vox humana 8' Gi Schalmey 4' Gi Tremulant neu alt Gl H Gi
Brustwerk (III) C-c3 Gedackt 8' Rohrflöte 4' Nasat 3' Octave 2' Waldflöte 2' Quinte 1 1/2' Sesquialtera 2f Octavzimbel 2f Trichterregal 8' Krummhorn 8'
um 1600 1662 H Gl H H H H Gi Gi
= 17./18. Jhdt. = Gloger 1742 = Hammer 1936 = Giesecke 1936
Koppel: BW/HW Tonhöhe: a1 = 440 Hz Stimmung: gleichschwebende Temperatur Mechanische Spiel- und Registertraktur
Otterndorf (St.-Severi-Kirche): Spieltisch vor der Restaurierung 2021
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Cadenberge (St.-Nicolai-Kirche) ____________________________________________________________ Die Kirche Die St.‐Nicolai‐Kirche wurde um 1319 erstmals urkundlich erwähnt und ist dem Heiligen Nikolaus geweiht, dem Schutzpatron der Schiffer, Fischer und Kaufleute. Von 1742 bis 1752 erfolgte ein Neubau der Kirche auf dem alten Grundriss: ein recht‐ eckiger Saalbau mit polygo‐ nalem Chorschluss auf den Grundmauern des mittel‐ Cadenberge: St.-Nicolai-Kirche alterlichen Vorgängerbaus; vor der Westseite ein frei‐ stehender hölzerner Glockenturm. Die einheitliche Ausstattung entstammt der Erbauerzeit, nur der Kanzelaltar wurde Ende des 18. Jahrhunderts errichtet.
Die Orgel Die Vorgängerkirche erhielt 1643 ihre erste Orgel, deren Erbauer nicht bekannt ist. Nachdem Johann Werner Klapmeyer (ein früherer Geselle Arp Schnitgers) dieses Instrument 1693 durch ein neues ersetzt hatte, bekam der Lamstedter Orgelbauer Jacob Albrecht nach dem Bau der heutigen Kirche 1750 den Auftrag zum Bau einer neuen Orgel. Albrecht brach 1754 diesen Neubau jedoch unvollendet ab. Der Orgelbauer Johann Hinrich Klapmeyer (Glückstadt) führte die Arbeiten fort, starb jedoch 1759. Danach beendete Dietrich Christoph Gloger (Stade) 1764 den Neubau der Orgel mit 27 Registern auf zwei Manualen und Pedal und gilt als ihr Erbauer. 1810 wurde eine größere Reparatur durch die Stader Orgelbauer Wilhelmy ausgeführt, gefolgt durch mehrfache Umbauten ab 1867. 1935/36 erfolgt der Versuch einer Wiederherstellung des ursprünglichen Klangbilds durch Furtwängler & Hammer (Hannover). Nach einer 1969-71 durchgeführten Rekonstruktion der ursprünglichen Struktur und Disposition durch die Werkstatt Rudolf Janke (Bovenden) waren zu dieser Zeit noch 20 originale Register vollständig oder teilweise erhalten. Die übrigen sieben Register mussten rekonstruiert werden. Der Winddruck wurde auf 68 mm WS festgelegt; die Stimmung ist gleichschwebend‐temperiert; die Tonhöhe ist ca. 3/4 Ton über normal. [Bei einer weiteren Überarbeitung erhielt die Orgel 2001 eine ungleich‐ schwebende Stimmung.]
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Cadenberge (St.-Nicolai-Kirche): Gloger-Orgel von 1764
Cadenberge (St.-Nicolai-Kirche) Gloger 1764, Janke 1971, II/P/27 Hauptwerk (I) CD-c3 Quintadena 16’ G Principal 8’ G C-E mit Ged. 8‘ Gedact 8’ G Octava 4’ G Offene Quint 3’ J Octava 2’ G Hohl Floite 2’ G/J Mixtur 4f 1’ G/J Trompete 8’ G Crumbhorn 8’ G/FH G = J = FH =
Hinterwerk (II) CD-c3 Floite travers 8’ J Gedact 8’ G Floite 4’ G/J Nashat Quint 3’ G Octava 2’ G Sexquialtera 2f * J Vox humana 8’ G *) repetiert bei c° und c1
Gloger 1764 Janke 1971 Furtwängler & Hammer 1936 (Becher des Crumbhorn)
Manualkoppel Hinterwerk an Hauptwerk Tremulant für das ganze Werk 2 Zimbelsterne, einer davon mit Glocken Winddruck: 68 mm WS Tonhöhe: ca. 3/4 Ton über normal Tremulant Mechanische Spiel- und Registertraktur, Schleifladen
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Pedal CD-d1 Bordüne 16’ G Metall Principal 8’ G Prosp. Octava 4’ G Rohrquint 3’ J Nachthorn 2’ J zyl.-off. Hohl Floite 1’ J ged. Mixtur 4f 2’ J Posaune 16’ G Trompete 8’ G Cornett 2’ G/J
Neuenfelde (St.-Pankratius-Kirche) ____________________________________________________________ Die Kirche Die St. Pankratius‐Kirche, die für uns eine besondere Bedeutung als Grabeskirche Arp Schnitgers erhält, kann als Musterbeispiel für die reichen barocken Kirchen des Alten Landes gelten. Der schlichte, auf einer Wurt gelegene Backsteinbau wurde 1682 errichtet. Der großräumige Saal schließt mit polygona‐ ler Apsis. Eine holz‐ verschalte Tonne über‐ wölbt den Raum, der in der Gesimszone durch die statisch notwendi‐ gen Zugbalken geglie‐ dert wird. Die obere Raumzone gewinnt durch die reiche Aus‐ malung der Tonne von der Hand der Hambur‐ ger Heinrich Berichau und Christopher Wör‐ denhoff einen beson‐ Neuenfelde: St. Pankratius deren Reiz (1683). Die Kanzelaltarwand mit den seitlich anschließenden Kirchenstühlen, darunter der des Orgel‐ baumeisters Arp Schnitgers (Abb. unten, rechts neben der Kanzel) stammt aus dem frühen 18. Jahrhundert. Die reiche Ausstattung der Kirche erhält einen ungewöhnlichen Akzent durch einen vielfach gestaf‐ felten Taufstein‐Baldachin mit fantasievollem Figuren‐ schmuck. Dieses ausge‐ sprochen manieristische Werk stammt aus der Zeit um 1600, ist also fast ein Jahr‐ hundert älter als die Kirche und ihre übrige Ausstattung. Neuenfelde: St. Pankratius
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Die Orgel Die Orgel der St.‐Pankratius‐Kirche in Hamburg‐Neuenfelde wurde 1688 von Arp Schnitger (1648‐1719) erbaut und ist seine größte zweimanualige Orgel. Das Instrument verfügt über 34 Register, von denen etwa die Hälfte noch original erhalten ist. Schnitger war eng mit Neuenfelde verbunden. Hier lernte er seine erste Frau kennen, die er 1684 heiratete. 1693 erwarb er den Hof seines Schwiegervaters Hans Otte in Neuenfelde und unterhielt neben Hamburg hier eine weitere Orgelwerkstatt, den sogenannten „Orgelbauerhof“ (siehe Foto S. 12). Etwa ab 1705 bis zu seinem Tode im Jahr 1719 wohnte er in Neuenfelde, erbaute in St. Pankratius seinen Kirchenstuhl und wurde auch in dieser Kirche im Erb‐ begräbnis beigesetzt. Erst 1673 hatte Hans Christoph Fritzsche in der Vorgängerkirche eine neue Orgel mit 14 Registern gebaut, die nach Fritzsches Tod 1674 um ein selbstständiges Pedal erweitert werden sollte. Als 1682 die Kirche neu errichtet wurde, baute Schnitger die alte Orgel aus und stellte sie im neuen Gotteshaus wieder auf. Anscheinend erwies sich das Instrument aber für den neuen Raum als zu klein und unpassend, so dass Schnitger 1683 den Auftrag für einen Orgelneubau erhielt. Aufgrund weiterer Innenarbeiten in der Kirche (u. a. Deckenmalereien) konnte Schnitger erst 1688 mit dem Bau beginnen und stellte in 21 Wochen die neue Orgel auf einer fast sieben Meter hohen Westempore fertig. Im gleichen Jahr vollendete er auch seine neue große Orgel in Norden (St. Ludgeri). Die alte Fritzsche‐ Orgel überführte er in die Stader Pankratiuskirche und erweiterte sie dort um Pedaltürme. Um die Erhaltung seiner Orgel in Neuenfelde war Schnitger sehr besorgt: „Weil zum Nach‐ teil der Orgel gar zu viele an den Sonn‐ und Festtagen auf dieselbe gingen“, schlug er dem Kirchenvorstand vor, „dass ein jeder, welcher hinaufginge, zum Besten der Orgel 1 Heller geben soll. Dieser wird von dem Calcanten auf einem Becken gesammelt und in einer verschlossenen Büchse verwahret.“ Diese Einrichtung besteht bis in unsere Tage. Die Prospekte von Hauptwerk und Rückpositiv sind fünfachsig mit einem überhöhten poly‐ gonalen Mittelturm und seitlichen Spitztürmen. Zweigeschossige Flachfelder, die im Haupt‐ werk durch Kämpferleisten getrennt sind, vermitteln zwischen den Türmen. Die Pfeifen in den oberen Flachfeldern sind stumm. Insgesamt stehen 204 originale Pfeifen mit einem Zinnanteil von etwa 23 % im Prospekt. An das Hauptgehäuse schließt sich an beiden Seiten ein weiteres zweigeschossiges Flachfeld mit stummen Pfeifen an, das die seitlichen Pedaltürme in den Emporenbrüstungen mit dem Manualgehäuse verbindet. Die oberen und unteren Kranzgesimse sind profiliert und haben einen Fries. Die Pfeifenfelder weisen oben und unten durchbrochenes Schnitzwerk aus Akanthusblatt mit Voluten auf. Die Blind‐ flügel sind relativ schmal. 1750 erfolgte durch Jakob Albrecht (Lamstedt bei Stade) eine kleine Veränderung der Disposition. Albrecht entfernte Schnitgers Trichterregal im Rückpositiv und platzierte an dessen Stelle das Krummhorn aus dem Hauptwerk. Georg Wilhelm Wilhelmy hatte Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts das Instrument in Pflege. Er ersetzte die Klaviatu‐ ren und die beiden Zimbelsterne, baute eine Schiebekoppel ein und schuf die bekrönen‐ den Urnen auf dem Gehäuse.
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Neuenfelde (St. Pankratius): Schnitger-Orgel von 1688
Wesentlich eingreifender waren die Umbauten durch die Familie Röver (Stade) im 19. Jahr‐ hundert. Johann Hinrich Röver legte 1867 das Rückpositiv still und integrierte in einem neuen Hinterwerk zwei Flötenstimmen von Schnitger. Immerhin blieb die Schnitgersche Windlade erhalten. Carl Johann Heinrich Röver ersetzte 1886 mindestens fünf Schnitger‐ Register (Mixturen und Zungenstimmen). In den 1920er Jahren übte das Instrument einen großen Einfluss auf die noch junge „Orgel‐ bewegung“ aus und wurde in mehreren Abschnitten restauriert. 1926 setzten Hans Henny Jahnn und Karl Kemper das Rückpositiv wieder instand, wobei Kemper fehlende Schnitger‐Register überwiegend durch Lagerbestände ersetzte. Darunter sollen sich angeb‐ lich drei Register aus der Scherer‐Schule befunden haben, die nach den Forschungen von Gustav Fock aus der abgetragenen Orgel der Aegidienkirche (Lübeck) von Hans Scherer dem Jüngeren (1625) stammen sollen. Neuere Forschungen ergaben jedoch, dass nur einige wenige Pfeifen Scherer zugeordnet werden konnten. 1938 fertigte der Orgelbauer Paul Ott (Göttingen) alle hohen Mixturen und Zungen‐ stimmen neu an und reduzierte auf diese Weise den Originalbestand noch weiter. Durch die Werkstatt Rudolf von Beckerath (Hamburg) erfolgten 1950/51 eine Renovierung des Windwerks, eine teilweise Erneuerung der Traktur und der Einbau einer neuen Vox humana. Größere Restaurierungsarbeiten durch Paul Ott fanden 1978 ihren Abschluss: Die Verän‐ derungen an der Traktur wurden rückgängig gemacht, die Balganlage von Schnitger wieder reaktiviert und das Pfeifenwerk bei erniedrigtem Winddruck neu intoniert. Dennoch fiel die Uneinheitlichkeit einiger Register auf, was durch die späteren Ergänzungen und teils unsachgemäßen Restaurierungen bedingt war. Auch wurde das Klappern der Traktur als störend empfunden. Im Laufe der Jahre traten zudem verstärkt Intonationsprobleme auf.
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Gegenwärtig werden Pfeifenwerk und Windladen erneut von der Firma Ott ausgebessert, so dass die Orgel z. Zt. leider nicht spielbar ist. Die Arbeiten sollen im Spätsommer 1979 abgeschlossen sein.
Textergänzung 2022 Eine umfassende, nach strengen denkmalpflegerischen Grundsätzen und dem heutigen Kenntnisstand entsprechende Restaurierung wurde von 2015 bis 2017 durch die Werk‐ statt Kristian Wegscheider (Dresden) durchgeführt. Während dieser Zeit blieb das Gehäuse in der Kirche, wo es gerichtet und stabilisiert wurde. Die Restaurierung des Orgelgehäuses sowie die Freilegung und Restaurierung der Farbfassung führte 2015‐17 das Atelier Wellmer (Himbergen‐Groß Thondorf) aus. Bei der Untersuchung des Innenwerks zeigte sich, dass viele Teile der Traktur und etliche originale Pfeifen nicht mehr an ihrem ursprünglichen Platz standen und mehr originale Substanz erhalten war, als zunächst vermutet. Alle verlorenen und später ersetzten Pfeifen wurden rekonstruiert, vor allem die gemischten Stimmen und die Zungenstimmen, insgesamt 1.301 Pfeifen. Die Windladen Schnitgers sind erhalten, ebenfalls die Trakturen des Oberwerks, während Wegscheider die Trakturen von Rückpositiv und Pedal rekon‐ struierte. Die Klaviaturen von Wilhelmy einschließlich seiner Schiebekoppel aus der Zeit um 1800 wurden übernommen. Winddruckversuche führten bei einem relativ hohen Winddruck von 84 mm WS zu den besten Ergebnissen. Die dreifache Zimbel ist eine Quartsext‐Zimbel, wie sie Michael Praetorius in seiner Organographia (1619) beschreibt. Die neu konzipierte, modifizierte mitteltönige Stimmung ist der „Norder Stimmung“ der Orgel der Ludgerikirche in Norden vergleichbar. Die Wiedereinweihung der Orgel fand am 12. Juni 2017 statt. Der Ausbau des Airbus‐Werks Hamburg‐Finkenwerder für die Produktion des Großraum‐ Flugzeugs A‐380 hat von Anfang an Konflikte mit Anwohnern und Umweltschützern nach sich gezogen und zahlreiche Gerichte beschäftigt. Um die Startbahn der benachbarten Airbus‐Werft brach hier ab 2002 ein spektakulärer Streit zwischen der Stadt Hamburg, dem Airbus‐Konzern und dem fast 1000‐jährigen Dorf Neuenfelde aus. Wie David nahmen es die Neuenfelder mit dem Goliath Airbus auf. Sie wollten ihr Land nicht zur Verlängerung der Start‐ und Landebahn verkaufen. Dass andere damit kein Problem hatten, zerriss die Dorfgemeinschaft. Mal gab es Demos für, mal gegen Airbus. Im Dezember 2004 dann der Durchbruch: Die Stadt vermittelte die letzten Grundstücksverkäufe an den Flugzeug‐ bauer. Die verlängerte Startbahn wurde 2007 fertiggestellt. Welche Auswirkungen haben diese Veränderungen auf die Schnitger‐Orgel? Auch die Neuenfelder Pankratiuskirche wurde mit ihren Grundstücken in diesem Streit um die Ver‐ längerung der Landebahn zu einem Symbol der hart errungenen Einigung mit dem Luftfahrt‐Konzern. Bald wurde klar: Sogenannte Wirbelschleppen (Luftverwirbelungen am Heck der Flieger) bei Start und Landung rütteln an den Dachziegeln der Kirche und hätten immer wieder Schäden verursacht. So bekam die Kirche ein festeres Dach. Einen Teil der Kosten übernahm Airbus. Die Orgel wird deshalb auch künftig in voller Pracht erstrahlen.
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Neuenfelde (St.-Pankratius-Kirche) Schnitger 1688, Wegscheider 2017, II/P/34, Disposition seit 2017 = 1688 Oberwerk (II) CDEFGA–c3 Quintadena 16′ S Principal 8′ S Rohrfloit 8′ S Octav 4′ S Spitzfloit 4′ S Nasat 3′ S Octav 2′ S Spielfloit 2′ S Rauschpfeiff 2f S Mixtur 5-6 W Cimbel 3f W Trommet 8′ S/W Krummhorn 8′ W S = Wi = W =
Rückpositiv (I) CDEFGA–c3 Principal 4′ S Gedact 8′ S/W Quintadena 8′ S/W Plockfloit 4′ S Quintfloit 3′ S/W Octav 2′ S/W Siefloit 1 1∕2′ W Sexquialt 2f W Tertzian 2f W Scharf 4-6f W Trechter Regal 8′ W
Pedal CDE–d1 Principal 16′ Octav 8′ Octav 4′ Floit 4′ Nachthorn 2′ Rauschpfeiff 2f Mixtur 5-6f Posaun 16′ Trommet 8′ Cornet 2′
S S S S W S/W W W W W
Arp Schnitger (1688) Wilhelmy (um 1800) Kristian Wegscheider (2017)
Manual-Schiebekoppel RP/OW (Wi) Sperrventil für Pedal Klaviaturen: Manuale (Wilhelmy), Pedal (Wilhelmy/Wegscheider) Tremulant (S/W) 2 bronzene Zimbelsterne (Wi), Nachtigall (W) Windladen und Windversorgung: 6 Keilbälge (Schnitger) Winddruck: 84 mm WS Stimmung: Modifiziert mitteltönige Stimmung Tonhöhe ca. 3∕4 Ton über a1 = 440 Hz Zwei Zimbelsterne mit Akkordglocken (nicht von Schnitger) Mechanische Spiel- und Registertraktur
Neuenfelde (St. Pankratius): Spieltisch der Schnitger-Orgel vor der Restaurierung 2017
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Arp Schnitger in Neuenfelde Der Orgelbauer Arp Schnitger, das berühmte Gemeindeglied der Neuenfelder Pankratiuskirche, sowie seine erste Ehefrau und Tochter erhielten – wie sonst nur Gemeindepastoren und andere Amtspersonen – ihr Grab in dieser Kirche. Daran erinnert eine moderne Bodenplatte im Gang zur Nordtür neben Schnitgers Gruft. In Neuenfelde besaß Schnitgers Schwieger‐ vater einen ansehn‐ lichen Bauernhof, der später in Schnitgers Besitz überging. Mit der Übernahme dieses Hofes wurde Schnitger 1693 Mitglied der Kirchengemeinde Neuenfelde. Für noch ausstehenden Lohn für die neue Orgel sprach die Kirchen‐ gemeinde ihm und seinen Erben „die noch ledige Stelle auf dem Lektor hinter der Kanzel im Süden der Kirche“ zu, an der sich Schnitger dann durch den ihm befreundeten Hamburger Bild‐ schnitzer Christian Precht seinen Kirchen‐ stuhl errichten ließ. In seinem Wappen ist deutlich der Zirkel, das Berufszeichen der Orgelbauer, erkennbar. Der aus den Wolken ragende Arm deutet darauf hin, dass dem Meister die Kunst des Orgelbaus vom Himmel geschenkt sei. In die Helmzier sind zwei gekreuzte Stimmhörner eingefügt, wie sie zum Stimmen der Orgelpfeifen benutzt werden. Im Wappenschild seiner Frau deuten eine Blume mit drei Blüten und drei Weizenähren auf ihren ererbten Hof, der heute noch als „Orgelbauerhof“ existiert. Um 1900 wurde die Vorderfront dieses Hofes erneuert und im Stil der damaligen Zeit angeglichen. Im Jahre 1952 wurde eine Gedenktafel für Arp Schnitger mit seinem Wappen an dem Hause angebracht. Bei Restaurierungsarbeiten in der Kirche wurde im Frühjahr 1971 zu „Norden im Frauengange“ die gemauerte Gruft Schnitgers aufgefunden. In dieser Gruft waren drei Personen beigesetzt, zwei weibliche und eine männliche. Höchstwahrschein‐ lich handelt es sich um Arp Schnitgers erste Frau, die in Neuenfelde 1707 beige‐ setzt wurde, um Arp Schnitger selbst und um dessen Tochter Catharina, die 1736 in Neuenfelde begraben wurde. Heute befindet sich neben der Gruft eine Platte, die auf Schnitgers Grab hinweist.
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Steinkirchen (St.-Martin-und-Nikolaus-Kirche) ____________________________________________________________ Die Kirche In der heutigen, 1773 umgebauten barocken Saalkirche verbergen sich die Reste einer romanischen Feldsteinkirche und eines goti‐ schen Erweiterungsbaus vom An‐ fang des 16. Jahrhunderts. Ihr Bild wird von dem kräftigen Dachge‐ sims und dem sich darüber auf‐ bauenden Mansarddach bestimmt. Der Glockenturm mit schlanker Barockhaube wurde 1696 errich‐ tet. Die den Innenraum überspan‐ nende Holztonne wird in ihrem unteren Teil von einer Stuckvoute Steinkirchen: St.-Martin-und-Nikolauskirche aufgefangen, die mit Rocaillen und religiösen Emblemen geziert ist. Der pompöse Kanzelaltar ist ein Werk des Bildhauers Christoph Hermann Meyer aus Varden (1785). In den großartigen Architekturrahmen sind Statuen des Evangelisten Johannes, sowie im Aufsatz eine Kreuzigungsgruppe eingebunden. Die Altarwand ist in eine große Ostemporenanlage hineinkomponiert. Auch die Längswände sind von je zwei Emporen beglei‐ tet, die auf dünne geschmiedete Stützen gestellt sind. Besonders beachtenswert erscheint die vorn links 1689 errichtete „Zesterflethsche Prieche“ mit geschwunge‐ ner Brüstung.
Steinkirchen: Kanzelaltar
Seitenemporen
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Die Orgel Bereits zu Beginn des 16. Jahrhunderts besaß die Kirche eine kleine Orgel, die ein unbe‐ kannter Orgelbauer an der Nordwand in Altarnähe aufstellte und die vermutlich die erste Orgel im Alten Land war. Das Instrument hatte einen Tastenumfang von F‐g2a2, basierte also auf einer 6′‐Tonhöhe. Vier Register aus dieser Orgel sind noch ganz oder teilweise erhalten und anhand der gotischen Inskriptionen auf den Pfeifen zu identifizieren. 1581 erweiterte Dirck Hoyer (Hamburg), Schwiegersohn von Jacob Scherer, das Instrument um ein Brustwerk mit fünf Registern auf einem zweiten Manual im Stil der Renaissance. Der Vertrag über diese Orgelbaumaßnahme ist noch erhalten und eines der ältesten Orgelbau‐ schriftstücke des Alten Landes. Dieses Instrument scheint dann aber Ende des 17. Jahr‐ hunderts so bau‐ fällig gewesen zu sein, dass man im Jahre 1685 mit Arp Schnitger einen Kontrakt über einen Orgel‐ neubau schloss, den der Meister in den Jahren 1685-87 vollendete. Die Gemeinde ließ für das neue Werk Steinkirchen: Schnitger-Orgel von 1687 eine neue Empore im Westen der Kirche errichten. Schnitgers Orgel bestand aus Hauptwerk, Brustwerk und zwei Pedaltürmen mit insgesamt 28 klingenden Stimmen, darunter sechs ältere, die aus der Vorgängerorgel übernommen wurden. Im Jahre 1691 wurde das Orgelgehäuse bemalt. Aus dieser Zeit stammen auch die Bilder auf den zwölf Feldern der Emporenbrüstung mit gemalten biblischen Szenen und die Inschrift, die von Schnitgers Orgelbau Kunde gibt. Der fünfachsige Prospekt des Hauptgehäuses hat einen überhöhten polygonalen Mittel‐ turm und außen zwei Spitztürme. Zweigeschossige Pfeifenfelder vermitteln zwischen den Türmen unter einem gemeinsamen profilierten Gesimskranz. In den oberen Flachfeldern sind die Pfeifen stumm. Der Fries im profilierten Sockelkranz trägt die Inschrift: „Gott allein die Ehre“. Die freistehenden Pedaltürme sind in die Emporenbrüstung integriert. Alle Pfeifenfelder schließen oben und unten mit vergoldetem Schleierwerk ab, das auch das Hauptwerkgehäuse bekrönt und an beiden Seiten der Pedaltürme angebracht ist. Die ausgesägten flachen Verzierungen erhalten durch ihre Bemalung ihre plastische Wirkung.
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Eine gründliche Überholung und Generalreinigung erfolgte 1775 durch den Stader Orgel‐ bauer Georg Wilhelmy, der außerdem im Pedal das Gedeckt 8‘ durch eine Oktave 8‘ ersetzte. Dessen Sohn, Johann Georg Wilhelmy, war 1840 zum letzten Mal an der Orgel tätig; seine Arbeiten beschränkten sich lediglich auf die Stimmung des Werkes und eine Reparatur der Bälge. Von 1862 bis 1929 hatten Johann Hinrich Röver und sein Sohn das Werk in Pflege. 1893 ersetzte Röver Schnitgers sechs Keilbälge durch einen Magazinbalg und 1909 das Holzgedackt im Brustwerk durch ein Gedackt aus Metall; nur fünf Basspfeifen blieben erhalten. Der heutige [1979] Zustand der Orgel geht auf eine Renovierung in den Jahren 1947/48 durch Rudolf von Beckerath (Hamburg) zurück, der sehr behutsam mit dem Pfeifenwerk verfuhr und die originale Intonation kaum veränderte. Allerdings wurden Schnitgers Klavia‐ turen ersetzt. Im Jahre 1955 folgte eine neue Bemalung des Orgelgehäuses. Die gesamten Windladen aller drei Werke stammen noch von Schnitger, die Trakturen und Klaviaturen baute Beckerath neu. In der unteren Oktave der Klaviaturen (CDEFGABH = kurze Oktave) fehlen die beiden Halbtontasten Fis und Gis (wie wir sie in Cappel oder in Norden finden). Hier sind diese beiden Tasten auf der jetzigen „normalen“ Klaviatur an die entsprechenden Tasten der kleinen Oktave gekoppelt. Die Schnitgerschen Originalklaviaturen wurden aufbewahrt und sind erhalten. Klanglich ist diese Orgel von allen Werken Schnitgers im Alten Land eine der am besten erhaltene.
Textergänzung 2022 Die Werkstatt von Beckerath führte 1987 und 1991 eine weitere Restaurierung durch. Dabei wurden die 1948 ausgebauten, aber glücklicherweise aufbewahrten Schnitger‐Klaviaturen wieder eingebaut und ausgetauschte Register sowie sechs Keilbälge neu rekonstruiert. Bis auf die Octav 8′ im Pedal wurde Schnitgers Disposition wiederhergestellt. Da sich einige Restaurierungsmaßnahmen der Arbeiten von 1987/91 als nicht dauerhaft erwiesen, mussten in der Zeit von September 2011 bis Juni 2012 erneut einige den Zustand stabilisierende Maßnahmen vorgenommen werden. Diese Arbeiten wurden von Rowan West (Altenahr) durchgeführt. Er rekonstruierte im Hauptwerk die Mixtur und arbeitete die Cimbel von Beckerath um. Die Untersuchung an der Mixtur im Hauptwerk ergab, dass dieses Register in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, also vor Schnitger erbaut wurde. Der fast flötige Klang mischte sich sehr schlecht mit dem anderen Pfeifenbestand und erschien als Fremdkörper. Es wurde beschlossen, diese Pfeifen zu dokumentieren und in der Orgel einzulagern, damit der derzeitige ungeklärte Zustand des Registers erhalten bleibt und nicht durch weitere restaurative Maßnahmen alte Arbeits‐ und Intonationsspuren ver‐ wischt werden. Die Mixtur wurde nun rekonstruiert und dem Pfeifenbestand Schnitgers in Intonation und Klangstärke angenähert. Dieser Zustand ist jederzeit reversibel. Sollten sich neue Erkenntnisse über die alte Mixtur aus der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts ergeben, könnte diese restauriert und wieder eingebaut werden. Rowan West korrigierte auch die Funktion von Traktur und Windversorgung und legte Werckmeister III (modifiziert) als ungleichschwebende historische Stimmung an, die
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anhand der zugelöteten gedeckten Pfeifen rekon‐ struiert werden konnte und wahrscheinlich auf Wilhelmy (1775) zurückgeht. Seine Untersuchungen zur Pfei‐ fendatierung führte zu neuen Ergebnissen der komplexen Baugeschichte der Orgel. So stammen die Register Rohrflöte 8′ und der Nassat 3′, die bisher Hoyer (1581) zugeschrieben wurden, aus spätgotischer Zeit, also dem frühen 16. Jahrhundert. Die Quinta 3′, die früher der Schnitger‐ Schule zugeordnet wurde, geht auf die späte Schnit‐ ger‐Werkstatt zurück, wie Schnitgers Inskriptionen er‐ weisen. Sie steht auf der Schleife der sonst üblichen Nassat‐Quint 1 1⁄3′, die wahr‐ scheinlich ursprünglich vor‐ gesehen war. Krumphorn 8′ stammt ebenfalls von Schnitger, nur die Kehlen gehen auf Hoyer zurück. Steinkirchen: Schnitger-Orgel und Westemporen
Mit dem wertvollen Instrument in Steinkirchen ist ein Werk aus Schnitgers früher Schaffensperiode erhalten, das für eine Dorforgel über eine reiche Disposition mit 28 Stimmen verfügt. Ein Großteil der Register aus Schnitgers Neubau ist erhalten: 18 voll‐ ständig (davon sechs ganz oder teilweise unter Verwendung älterer Stimmen) und sechs teilweise. Bemerkenswert ist, dass die originale Intonation nicht eingreifend verändert wurde. Neben Schnitgers Orgel in Cappel fand die Orgel in Steinkirchen deshalb häufig für Musikaufnahmen Verwendung, die das Instrument weithin bekannt gemacht haben. Der Prospekt und das Pfeifenwerk der Steinkirchener Orgel dienten dem Orgelbauer Rudolf von Beckerath im Jahre 1951 beim Bau seines Opus 1, der Orgel in der katholischen St. Elisabethkirche in Hamburg‐Harvestehude, als Vorbild.
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Steinkirchen (St. Martin und Nikolaus) Hoyer 1581, Schnitger 1687, Wilhelmy 1775, Beckerath 1991, West 2012, II/P/28 Hauptwerk (I) CDEFGA-c3 Quintadena 16' C-e°: S, ab f°: H Principal 8' S Rohr-Flöt 8' F-a2: V, Rest: S Octave 4' V Nassat 3' C-g°: V, ab gis°: S Octave 2' V Gemshorn 2' S, zylindrisch Sexquialtera 2f S Mixtur 4-6f RW Cimbel 3f B/RW Trompet 8' S
Brustwerk (II) CDEFGA-c3 Gedact 8' C-G: S, Rest: B Rohr-Flöth 4' S Quinta 3' S, konisch Octave 2' S Spitz-Flöth 2' S Tertzian 2f S/B Scharff 3-5f S Krumphorn 8' S, Kehlen ab F: H
Pedal CDE-d1 Principal 16' Octav 8' Octav 4' Nachthorn 2' Rausch-Pfeiffe 2f Mixtur 4-5f Posaun 16' Trompet 8' Cornett 2'
Abkürzungen der Orgelbauer: V = vor Hoyer, 1. Hälfte 16. Jh. H = Hoyer 1581 S = Schnitger 1687 W = Wilhelmy 1775 B = Beckerath 1987/91 RW= Roman West 2012
S W S B S/B S/B S S S/B
Manual-Schiebekoppel BW/HW (Schnitger) Tremulant (Beckerath)
Zimbelsterne (Akkordglocken, Wilhelmy) Mechanische Spiel- und Registertraktur
Stimmung: ungleichschwebend nach Werckmeister III, modifiziert Tonhöhe 3/4 Ton über a1 (483 Hz) Windversorgung: sechs Keilbälge (Beckerath) Drei Sperrventile für HW, BW und Pedal (Schnitger/Beckerath) Winddruck 72 mm WS, Windladen: Schnitger
Steinkirchen: Spielanlage der Schnitger-Orgel Klaviaturen Manuale: Schnitger Pedal: Wilhelmy
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Stade (St.-Wilhadi-Kirche) ____________________________________________________________ Die Kirche Diese älteste Stader Pfarrkirche ist dem ersten Bremer Bischof Willehad geweiht; die früheste urkundliche Erwähnung datiert aus dem Jahre 1132. Die ältesten Teile des Bau‐ werks finden sich im Rumpf des mächtigen quadratischen Westturmes, der gegen Ende des 13. Jahrhunderts entstanden ist. Die heutige Abdeckung des Turmstumpfes mit der flachen Pyramide (der „Schiffermütze“) ist eine nach dem Stadtbrand entstandene Lösung von 1765. Das Bild des ursprünglich höheren Turmes hat durch Blitz‐ schlag und Brand vielfältige Verän‐ derungen erfahren (u. a. zierte ihn – ähnlich St. Cosmae – eine welsche Haube des gleichen Bau‐ meisters Andreas Henne, 1668). In der ersten Hälfte des 14. Jahrhun‐ derts wird anstelle des basilikalen Vorgängerbaus eine dreischiffige Halle von sechs Jochen mit einer Choranlage von drei polygonalen Apsiden begonnen. Dabei werden zunächst nur der Chor und die drei östlichen Joche errichtet und dieser Stade: St.-Wilhadi-Kirche erste Abschnitt durch eine proviso‐ rische Westwand geschlossen. Nach etwa 20 Jahren, um 1360, beginnt der Weiterbau in veränderten Detailformen. An der nördlichen Außenwand wird in diesem zweiten Bauab‐ schnitt über die Länge von zwei Jochen das sog. „Brauthaus“ angebaut. Diese ursprünglich in voller Raumhöhe errichtete Kapelle (heute in zwei Geschosse geteilt) diente der Heirats‐ zeremonie. Die Gewölbe dieses Raumes werden von sechs Kopfkonsolen getragen, die drei Menschenpaare in drei verschiedenen Lebensaltern darstellen. Der lichtdurchflutete, weite Hallenraum wird von hochgebusten Kreuzrippengewölben überspannt, die auf kräf‐ tigen Rundpfeilern ruhen. Eine im dritten Viertel des 19. Jahrhunderts unter C. W. Hase durchgeführte Gesamtrestaurierung hat das ursprüngliche Raumbild unverändert belassen. Die Renovierung von 1957 bereinigte die Schiffe von störenden Emporeneinbauten. Die helle Bemalung der Ziegelwände stellt den ursprünglichen Raumeindruck wieder her, der durch hell geputzte Flächen bestimmt war. Der barocke Hauptaltar von 1660 zeigt in einen großangelegten Architekturrahmen hinein‐ komponiert figürliche Darstellungen der Kreuzigung, die Figuren der Evangelisten, darüber ein Gemälde der Grablegung und als bekrönenden Abschluss die Figur des Auferstan‐ denen. Aus dem gleichen Jahr stammt die Kanzel (Hamburger Werkstattarbeit), in deren
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Stade (St. Wilhadi): Hauptaltar
Feldern, die von gewundenen Säulen unterteilt sind, Statuen Christi und der Apostel eingefügt sind. Am Kanzelaufgang wacht eine nicht gedeu‐ tete Figur mit erhobenem Zeigefinger. Die Kanzel‐ anlage wird von einem reich dekorierten zwei‐ stufigen Schalldeckel bekrönt, dessen Rand Engel graziös umspielen. Schließlich müssen (neben zahlreichen Epitaphien) noch die reichen Messing‐ guss‐Kronleuchter erwähnt werden, die der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts und dem 17. Jahrhundert zuzurechnen sind. Es soll hier, veran‐ lasst durch die überaus prachtvoll entfaltete Gliederung des Orgelprospektes, stellvertretend für die vielen anderen Kirchenräume darauf hin‐
gewiesen werden, welche außer‐ ordentliche Bedeutung die Orgeln mit ihren prunkvollen Prospekten für das optische Gleichgewicht der Kirchen‐ räume haben: Sie bringen den gesam‐ ten Raum als Kontrapunkt zum Altar‐ bezirk zu einer inneren Ausgeglichen‐ heit. Stade (St. Wilhadi): Blick von der Orgelempore
Die Orgel Die erste Erwähnung einer Orgel in St. Wilhadi datiert in das Jahr 1322. Neben Orgeln in Verden, Lübeck und Ratzeburg gehört die Stader Wilhadi‐Orgel von 1322 mit zu den ganz frühen Zeugnissen des mittelalterlichen Orgelbaus in Norddeutschland. Ein Blitzschlag zerstörte 1511 Turm und Orgel. Auch die folgende, 1632 erwähnte Orgel wird durch einen Stadtbrand 1659 vernichtet. Der Neubau einer Orgel durch Berendt Huß begann 1673. Nach dem Tode Huß' 1676 vollendete Arp Schnitger dieses Werk mit 46 Registern auf drei Manualen und Pedal im April 1678. „Die Kirchenverwaltung verehrte dem Orgel Bauwer Gesell Schnitger dafür 60 M.“ Doch bei einem dänischen Bombardement im Jahre 1712 wurde das Instrument stark beschädigt. Schnitger stellte es in den folgenden zwei Jahren wieder her, aber schon zerstörte 1724 ein Blitzschlag abermals Turm und Orgel. Der Turm‐ helm wurde seitdem nicht wieder aufgerichtet, aber auf eine Orgel wollte die Gemeinde nicht verzichten.
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Sie schloss 1730 mit dem Orgelbauer Erasmus Bielfeldt einen Vertrag über den Bau einer dreimanualigen Orgel mit 40 Stimmen auf drei Manualen (Hauptwerk, Hinter‐ werk, Brustwerk) und Pedal, die im Jahre 1735 fertigge‐ stellt wurde. Bielfeldt hatte seither seinen Wohnsitz in Stade. Seine Dispositionen sind denen Schnitgers sehr ähnlich, obwohl er keine Rückpositive mehr gebaut hat. Ein Rückpositiv ist in St. Wilhadi erst 1937 hinzuge‐ fügt worden. Stade (St. Wilhadi): Bielfeldt-Orgel 1735 Es folgten mehrere Repara‐ turen und Umbauten: 1786 durch G. W. Wilhelmy, 1825 durch J. G. Wilhelmy, 1875 durch J. H. Röver, der das Hinterwerk 1894 in einen Schwellkasten stellte. 1937 begannen Arbeiten, die der damaligen Zeit entsprachen: Das Hinterwerk wurde zu einem Rückpositiv umgebaut, und manche Register wurden umfunktioniert. Dieses Rückpositiv wurde ohne Gehäuse im Rücken des Spielers auf die Empore gestellt und bekam erst bei weiteren verändernden Umbauten in den Jahren 1961 bis 1963 durch die Werkstatt Paul Ott (Göttingen) ein Gehäuse, das in die Brüstung der Empore eingegliedert wurde, aber nicht genau dem für Bielfeldt üblichen Aufbau entspricht. Das Pfeifenwerk wurde fast aus‐ nahmslos umgearbeitet und neu intoniert. Heute [1979] besitzt die Orgel wieder 40 Register auf Hauptwerk, Rückpositiv, Brustwerk und Pedal. Der mit prächtigem Schnitzwerk gearbeitete Prospekt zählt zu den schönsten an der Niederelbe; die Prospektpfeifen sind neu.
Textergänzung 2022 Das Ergebnis der Arbeiten von 1963 war unbefriedigend, und aus heutiger Sicht muss diese Restaurierung als verfehlt angesehen werden. In den Jahren 1987‐1990 erfolgte deshalb eine umfangreiche Restaurierung des Orgelwerkes durch die ostfriesische Werkstatt Jürgen Ahrend (Leer‐Loga). Sie wurde auf der Grundlage der großen Orgelbaukunst der Barockzeit durchgeführt und brachte die Orgel in technischer wie in klanglicher Hinsicht wieder in einen Zustand, der dem der Erbauungszeit entspricht. Alle verloren gegangenen Register und Pfeifen wurden nach alten Vorbildern ergänzt oder rekonstruiert. Das Rück‐ positiv erhielt wieder seinen ursprünglichen Platz als Hinterwerk. Neben der Bielfeldt‐Orgel in Osterholz‐Scharmbeck (1745) besteht nun auch das zweite erhaltene Instrument von Erasmus Bielfeldt in der alten, farbigen Klanglichkeit.
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Stade (St.-Wilhadi-Kirche) Bielfeldt 1735, Ahrend 1990, III/P/40 Hauptwerk (I) CD-c3 Principal 16' Quintatön 16' Octave 8' Viola da Gamba 8' Gedact 8' Octave 4' Nashat 3' Octave 2' Mixtur 4-6f Cimbel 3f Trompete 16' Trompete 8'
A B B B/A B B B B A A B B
Pedal CD-d1 Principal Subbass Octave Octave Rauschquinte 2f Mixtur 4-5f Posaune Trompete Trompete Trompete
B/A B B B B A B B A A
16' 16' 8' 4' 16' 8' 4' 2'
Brustwerk (II) CD-c3 Flute douce 8' B Octave 4' A Flute douce 4' B Superoctave 2' B/A Quinte 1 1/2' A Scharf 3-4f A Dulcian 8' B Schalmey 4' A
Hinterwerk (III) CD-c3 Octave 8' B/A Rohrflöte 8' B/A Quintadena 8' B Octave 4' B Quinte 3' B Octave 2' A Sesquialtera 2f A Scharf 3-4f A Fagott 16' B Vox humana 8' A
B = Bielfeldt 1736 A = Jürgen Ahrend 1990 Manualschiebekoppel BW an HW Tremulant (auf alle Werke wirkend) Zwei Zimbelsterne Winddruck: 81 mm WS Tonhöhe: a' = 473 Hz Stimmung: Werkmeister II (modifiziert) Mechanische Spiel- und Registertraktur
Stade (St. Wilhadi): Spielanlage
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Die Chororgel Mit der Erasmus‐Bielfeldt‐ Orgel in der St.‐Wilhadi‐ Kirche und der Huß‐Schnit‐ ger‐Orgel in der benach‐ barten St.‐Cosmae‐Kirche verfügt die Hansestadt Stade bereits über zwei außerordentlich wertvolle historische Orgeln. Allerdings kann man aufgrund ihrer histori‐ schen Stimmungen auf diesen barocken Instru‐ menten Musik der Romantik und Komposi‐ tionen des 20. Jahrhun‐ derts nur sehr einge‐ schränkt spielen. Auch ein Zusammenspiel von Orgel und Orchester ist aus diesem Grund kaum mög‐ lich. So entstand die Idee, in St. Wilhadi eine Chor‐ orgel in moderner Stim‐ mung zu bauen. Dabei orientierte man sich in der Konzeption und Disposi‐ tion an den Chororgeln des französischen Orgel‐ baumeisters Aristide Cavaillé‐Coll (1811‐1899).
Stade (St. Wilhadi): Chororgel von 2019
Der Auftrag ging an den süddeutschen Orgelbaumeister Jens Steinhoff aus Schwörstadt (bei Bad Säckingen). Der in Konstanz geborene Steinhoff schloss seine Orgelbauerlehre 1994 in der Werkstatt Fischer & Krämer (Endingen) ab und arbeitete danach in den Werkstätten Vleugels (Hardheim), Glatter‐Götz (Owingen) und Orguian (Portugal). 1998 legte er seine Meisterprüfung ab, arbeitete danach von 1999 bis 2001 in der Werkstatt Jürgen Ahrend (Loga‐Leer) und begründete 2002 seine eigene Orgelbauwerkstatt in Schwörstadt. Mit dem Bau der rund vier Tonnen schweren Chororgel in Stade wurde 2017 begonnen, und am 31. März 2019 konnte das Instrument eingeweiht werden. Es steht auf einem eigens für diesen Zweck gegossenen Betonfundament links von der Kanzel im Seitenschiff
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auf der Höhe des Altarraumes der Kirche und um‐ fasst 22 Register auf zwei Manu‐ alen und Pedal. Davon sind drei Register Extensio‐ nen (Erweiterun‐ gen) und drei Transmissionen. Die Intonation be‐ sorgte OBM Ekke‐ hard Fehl (Teltow). Die neue Chor‐ orgel bringt unge‐ Stade (St. Wilhadi): Bielfeldt-Orgel 1735 und Steinhoff-Chororgel 2019 wohnte romanti‐ sche Klänge nach Stade. Sie bereichert die dortige historische Orgellandschaft wesentlich um nun darstellbare Musik des 19., 20. und 21. Jahrhunderts. Die romantischen französischen Klangfarben sind in der Region einmalig. Im Gottesdienst und Konzert steht die neue Chororgel der Gemeinde und den Chören zur Seite. Oratorische Aufführungen unter Mitwirkung der Orgel sind nun möglich, die bisher nicht realisierbar waren. Stade (St.-Wilhadi-Kirche), Chororgel Steinhoff 2019, II/P/22 (16) Grand Orgue (I) C-a3 Bourdon 16′ Montre 8′ Flûte harmonique 8′ Bourdon 8′ Ext. Salicional 8′ Prestant 4′
Récit expressif (II) C-a3 Cor de nuit 8′ Viole de gambe 8′ Voix céleste 8′ Flûte octaviante 4′ Nazard 2 2∕3′ Octavin 2′ Tierce 1 3∕5′ Plein-Jeu 3f 1 1∕3′ Trompette harmonique 8′ Basson-Hautbois 8′ Trémolo
Pédale C-f1 Soubasse Soubasse Violoncelle Flûte Bombarde Trompette
Koppeln: I/II, II/I, I 16′, I 4′, II 16′, II 4′, II/I 16′, II/I 4′, I/Ped, II/Ped II/Ped 4′ Mechanische Spieltraktur, elektrische Registertraktur, Schleifladen Setzerkombinationen; Sequenzer vor/zurück Avantgarde (Windregulation) Stimmung: gleichschwebend, a1 = 440 Hz, Winddruck 87mm WS
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32′ 16′ 8′ 8′ 16′ 8′
Ext. aus Soub. Transm. aus Récit Transm. aus Récit Ext. Transm. aus Récit
Stade (St.-Cosmae-et-Damiani-Kirche) ____________________________________________________________ Die Kirche Die prächtige Barockhaube, die weithin sichtbar das Stadtbild bestimmt, überragt eine stark gegliederte Baugruppe von 44 Metern Länge. Sie ist in einer langen, wechselvollen Baugeschichte entstanden. Im heutigen Baukörper sind in der nördlichen Schiffswand sowie in der Nordostpartie des nördlichen Querschiffsflügels noch Teile des Ursprungs‐ baus, einer kreuzförmigen Anlage aus der Mitte des 13. Jahrhunderts, erhalten, die an ihren schlan‐ ken, spitzbogigen Fenstern zu erkennen sind. Die gesamte Anlage dieser frühesten Baustufe ist nicht rekonstruierbar. Die Vierung ist von Anfang an ge‐ wölbt gewesen; die Kreuzflügel waren flach gedeckt.
Stade: St.-Cosmae-et-Damiani-Kirche
Im 15. Jahrhundert erfolgte der Neubau des Chores als dreischiffige Anlage. Der achteckige Vierungsturm stammt in seinem sichtbaren Bestand aus dem 16. Jahrhundert. Im darauf‐ folgenden Jahrhundert wird eine neue, dreigiebelige Ostfassade gebaut und die südliche Schiffswand erneuert. Nach einem verheerenden Brand (1659) wurden eine Instandsetzung des gotischen Vierungsgewölbes und die Neuanlage der hölzernen Tonne über Schiff und Chor notwendig. 1682 wird die großartige barocke Haube des Vierungsturmes durch Andreas Henne errichtet. Wir registrieren also eine Baugeschichte, die sich fast ununter‐ brochen über fünf Jahrhunderte erstreckt. Der Innenraum gewinnt durch malerische Überschneidungen der eigenartig verschach‐ telten Raumpartien seinen besonderen Reiz. Wie fast bei allen Kirchen im Küstenbereich enthält die Ausstattung zunächst ein großes barockes Altarretabel (hier allerdings ohne einbezogene Kanzel), das 1674‐77 durch den Hamburger Bildhauer Christian Pracht
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geschaffen wurde. In qualitätvoller Arbeit sind neben lebensgroßen Evangelistenfiguren Reliefs von Kreuzigung und Grablegung gezeigt. Daneben findet sich der aus der ehemaligen Gertrudenkapelle hierher übertragene Gertruden‐Altar: ein gotisches Triptychon, eine Hamburger Arbeit, um 1500. Aus der Zeit des Wiederaufbaus nach dem großen Brand (1659) stammen die Marmortaufe, die am nordöstlichen Vierungspfeiler aufgestellte Kanzel, einige fantasiereiche, schmiedeeiserne Gitter, die Emporeneinbauten sowie drei prunkvolle Kronleuchter. Daneben sind zahlreiche Epitaphien und Gemälde des 16., 17. und 18. Jahrhunderts erhalten.
Die Orgel Die heute noch erhaltene Orgel von St. Cosmae wurde in den Jahren 1669-1673 von Berendt Huß und seinem Gesellen und Neffen Arp Schnitger gebaut und gilt als eine der bedeutendsten Barockorgeln Norddeutschlands. Sie verfügt über 42 weitgehend original erhaltene Register auf drei Manualen und Pedal. Nachweislich ist in St. Cosmae schon für das Jahr 1493 eine Orgel bezeugt. Nachdem Hans Scherer der Ältere zwar 1591 mit einem Neubau beauftragt wurde, diesen aber nicht durch‐ führte, baute sein Geselle Antonius Wilde 1606‐1608 eine neue Orgel mit 28 Registern auf Hauptwerk, Rückpositiv und Pedal. 1628 arbeitete Hans Scherer der Jüngere an dem Instrument und 1635 ein unbekannter Orgelbauer. Hans Riege aus Otterndorf führte 1656 einen Umbau durch. Mit der Kirche fiel diese Orgel dem großen Stadtbrand von 1659 zum Opfer. Die Kirche wurde sogleich wieder aufgebaut. Den Auftrag für einen Orgelneubau bekam Berendt Huß im Jahre 1668. An dieser Orgel hat Huß‘ Neffe und Geselle Arp Schnitger maßgeblich mitgearbeitet. Sie wurde in mehre‐ ren Bauabschnitten errichtet: 1669 erbaute man das Hauptgehäuse mit dem Balghaus, 1670 erfolgten der Einbau der Spielanlage mit den Springladen und des Pfeifenwerks samt Intonation. Vermutlich waren die doppelten Spring‐ laden im Oberwerk (= Hauptwerk) Schnitgers Meister‐ stück. Die anderen Werke sind mit Schleifladen aus‐ gestattet. 1670/71 folgte das Rückpositiv, 1671 das Pedal und 1672/73 das Brustpositiv. Für die einzelnen Bauabschnitte wurden vermutlich aus finanziellen Grün‐ den aufgrund des Wiederaufbaus der Stadt einzelne Verträge geschlossen. Womöglich wurde der Neubau erst 1675 vollständig abgeschlossen.
Vincent Lübeck
Nach dem Tode des damaligen Cosmae‐Organisten Arnoldus Schepler wählte man 1675 den 20‐jährigen Vincent Lübeck (1654‐1740) als seinen Nachfolger, der dieses Amt bis 1702 versah. Lübeck gelangte bald als Orgelspieler, Komponist und Lehrer zu hohem An‐ sehen und war der bedeutendste Musiker Stades. Im Jahre 1688 ließ er durch Schnitger einige bemerkens‐
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werte Veränderungen an der Dispo‐ sition seiner Orgel vornehmen und im Hauptwerk Trommet 16‘ und Cimbel 3fach sowie im Brustwerk Krumphorn 8‘ und Schalmei 4‘ ein‐ bauen. Der Prospekt ist nach Art des „Ham‐ burger Prospekts“ aufgebaut. Die Orgel mit ihren 42 Registern auf drei Manualen und Pedal ist somit klar untergliedert in das prächtige Oberwerk (Hauptwerk), das ver‐ steckt darunter liegende Brustwerk, das in den Raum hineinragende Rückpositiv und die beiden Pedal‐ türme links und rechts. Insgesamt verbergen sich hinter den Fassaden etwa 2.500 Pfeifen (davon 115 aus Holz), von denen 154 sichtbar sind. Stade (St. Cosmae): Huß-/Schnitger-Orgel 1673
Die fünfteilige Rückpositiv‐Fassade zeigt die verkleinerte Form der Hauptwerk‐Fassade. Auf den drei Türmen des Hauptgehäuses stehen drei Frauenskulpturen, die die göttlichen Tugenden Glaube (Kreuz), Hoffnung (Anker) und Liebe (Säugling) symbolisieren. Auf dem Mittelturm des Rückpositivs steht der Harfe spielende König David, der von zwei Engeln flankiert wird. Als Vorbild für die bekrönenden Figuren diente offensichtlich die Stadtkirche Glückstadt, wo Huß ansässig war und 1665 eine neue Orgel geschaffen hatte. Beide Manual‐ gehäuse haben polygonale Mitteltürme, dem sich zweigeschossige Flachfelder an‐ schließen, die zu den Spitztürmen überleiten. In den Obergeschossen der Flachfelder sind die Pfeifen stumm. Zwei weitere Flachfelder mit stummen Pfeifen verbinden das Haupt‐ werkgehäuse mit den polygonalen Pedaltürmen, die von einer Volutenkrone mit Kugel verziert wird. Von besonderer Klangqualität sind die Holzflöten im Brustwerk und die neun original erhaltenen Zungenregister. Die 16′‐Basis der Orgel verleiht dem Klang Gravität und stellt einen Kontrast zu den brillanten Mixturen im Plenum dar. Otto Diedrich Richborn (Hamburg) führte 1728 eine Reparatur durch, ohne in die Disposi‐ tion einzugreifen. 1782 wurde die Empore umgebaut und nach vorne erweitert. In diesem Zuge geschah durch Georg Wilhelm Wilhelmy aus Stade ein Eingriff in die Disposition durch den Austausch zweier Register. Die Empore wurde vergrößert, damit „künftighin die Kirchen Musicken auf der Orgel gehalten werden können“. Die Pedaltürme wurden verkürzt und angehoben und durch Rundbögen, die mit der Jahreszahl 1782 bezeichnet sind, mit dem Manualgehäuse verbunden. Ende des 18. Jahrhunderts wurde ein Glocken‐ spiel mit 45 Schalenglocken eingebaut, das vom Manual des Hauptwerks mittels einer
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Hammermechanik anspielbar ist. Weitere Veränderungen erfolgten 1837‐1841 durch Johann Georg Wilhelmy, der die Pedalklaviatur tiefer in das Gehäuse verlegte, die Manual‐ klaviaturen erneuerte, eine Koppel zwischen Hauptwerk und Rückpositiv einbaute und einzelne schadhafte Pfeifen ersetzte. Ein eingreifender Umbau erfolgte 1870 durch Johann Hinrich Röver aus Stade, der die Disposition und Tonhöhe veränderte und das Rückpositiv auf einer Kegellade ohne Gehäuse hinter die Orgel setzte. Er erniedrigte die Stimmtonhöhe um einen Ganzton. Die Empore wurde 1910 nochmals vergrößert und vor die Orgel gezogen. 1917 mussten die Prospektpfeifen aus Zinn für Kriegszwecke abgeliefert werden; sie wurden 1919 durch minderwertige Zinkpfeifen ersetzt. Dank Rövers Umsetzung des Rückpositivs ins Haupt‐ gehäuse blieb der Principal 8′ des RP verschont. Paul Ott (Göttingen) versuchte im Jahre 1948, die Disposition Schnitgers wiederherzu‐ stellen und platzierte das Rückpositiv wieder vor das Hauptwerk, allerdings in einem neuen Gehäuse mitten auf der 1910 vergrößerten Empore. Durch die Erniedrigung des Winddrucks griff Ott zudem in die Klangsubstanz und Intonation ein. 1956 wurden die fehlenden Basstöne in den Manualwerken und im Pedalwerk mithilfe von Zusatzladen erweitert, was zu Folgeschäden führte. Nach diesen verfehlten Arbeiten der Nach‐ kriegsjahre erfolgte eine umfassende Restaurierung in den Jahren 1972-1975 durch Jürgen Ahrend (Leer‐Loga), der den ursprünglichen Zustand von 1788 ein‐ schließlich der Emporensituation wieder nach strengen denkmalpflegerischen Maß‐ stäben herstellte und die später erneu‐ erten Register rekonstruierte. Ahrend stellte auch die alten Klaviaturumfänge mit kurzer Oktave sowie das Rückpositiv‐ gehäuse wieder her. Hinsichtlich der Stimmung der Orgel legte Ahrend 1975 eine modifiziert oder erwei‐ tert mitteltönige Temperatur, die Harald Vogel speziell für diese Restaurierung ent‐ Jürgen Ahrend wickelte. Sie erzielt eine große Reinheit des Orgelklangs in den Tonarten mit wenigen Vorzeichen, lässt aber auch das Spiel von mehr Tonarten zu, als es in einer strikten mitteltönigen Temperatur gemeinhin für akzep‐ tabel angesehen wird. Diese Temperatur der Stader Cosmae‐Orgel ist systematisch der modifiziert oder erweitert mitteltönigen Stimmung ähnlich, die 1985 als „Norder Stim‐ mung“ durch die Restaurierung der Schnitger‐Orgel der Ludgerikirche zu Norden bekannt geworden ist und Verbreitung gefunden hat (siehe Begleitheft zur Orgelstudienfahrt Nr. 1, Seite 51).
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Textergänzung 2022 1983 wurde das historische Glockenspiel (spielbar vom Hauptwerks‐Manual) restauriert. Nach einer Kirchenrenovierung konnte die Werkstatt Jürgen Ahrend 1993‐1994 die Orgel nachbearbeiten und das Hintergehäuse wiederherstellen, wodurch verschiedene weitere Verbesserungen erzielt wurden. Die Werkstatt Wellmer (Himbergen) stellte 2007 die alte Farbfassung des Gehäuses aus dem Jahr 1727 wieder her.
Stade (St. Cosmae): Blick vom Rückpositivgehäuse auf Spielanlage und Brustwerk Deutlich zu erkennen sind die Klaviaturumfänge in der großen Oktave der Manuale („kurze Oktave“ CDEFGA, vgl. Seite 27) und im Pedal („verkürzte Oktave“ D=C, Dis=D), vgl. Seite 26 Oben auf der Brustwerk-Lade sind die beiden originalen Zungenregister zu erkennen: vorn Schalmey 4‘, dahinter Kromphorn 8‘
Spielanlage – mit den Registerzügen für das Rückpositiv (links) direkt am RP-Gehäuse
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Stade (St. Cosmae) Disposition seit 1975 (= 1688) Huß/Schnitger 1673, Schnitger 1688, Ahrend 1975, III/P/42 Hauptwerk (II) CDEFGA-c3 Principal 16' A, F-c3 Prosp. Quintadena 16' HS Octav 8' HS Gedackt 8' HS Octav 4' HS Rohr Flöt 4' HS Nassat 3' HS Octav 2' HS Mixtur 6f HS/A Zimbel 3f A Trommet 16' S Trommet 8' HS Glockenspiel spätes 18. Jh., rest.1983
Rückpositiv (I) CDEFGA-c3 Principal 8' HS/A CDE mit Rohrfl., F-c3 Prosp. Rohr Flöt 8' HS/A C-H Ahrend, ab c° HS Quintadena 8' HS Octav 4' HS Sesquialter 2f A Wald Flöt 2' HS Sieflöt 1 1/2' A Scharff 5f A Dulcian 16' HS Trechter Regal 8' HS
Brustwerk (III) CDEFGA-c3 Gedackt 8' HS, Eichenholz Quer Flöt 8' HS Eichenholz, ab c1 Flöt 4' HS Eichenholz, offen Octav 2' HS Tertia 1 3/5' HS Nassat Quint 1 1/2' HS/A Sedetz 1' HS/A Scharff 3f HS/A Krumphorn 8' S Schalmey 4' S/A
Pedal CDE-d1 Principal 16' HS/A C-H Prospekt (A), Rest innen (HS) Sub-Bass 16' HS/A C-Fis (A), Rest (H) Octav 8' HS Octav 4' HS Nachthorn 1' HS Mixtur 5-6f HS Posaun 16' HS Dulcian 16' A Trommet 8' HS Cornet 2' HS/A
HS = S = A =
Huß-Schnitger 1673 Schnitger 1688 Ahrend 1975
Manual-Schiebekoppel BW/HW Tremulant für das ganze Werk Klaviaturen: Ahrend Mechanische Spiel- und Registertraktur Vier Sperrventile Doppelte Springladen im Hauptwerk (Schnitger) Schleifladen im Rückpositiv, Brustwerk und Pedal (Schnitger) Sechs Keilbälge (Schnitger), vier gegenwärtig in Betrieb; auch von Bälgetretern zu bedienen Winddruck: 80 mm WS Tonhöhe: 1 Ganzton über normal (a1 = 493 Hz) Stimmung: erweitert mitteltönig (modifiziert mit 3 reinen großen Terzen)
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Die Huß-/Schnitger-Orgel wird mit folgenden Werken vorgestellt:
Dietrich Buxtehude 1637‐1707
Magnificat primi toni
Johann Pachelbel 1653‐1706
Partita „Was Gott tut, das ist wohlgetan“
Samuel Scheidt 1587‐1654
„O lux beata trinitas“
Praeludium und Fuge in g‐Moll
Vincent Lübeck 1654‐1740
Choralis in basso (Trompete 8') Choralis in cantu (Nachthorn 1' Ped.) Choralis in altus (Cornett 2' Ped.) Choralis in tenore (Oktave 4' Ped.) Choralis in basso (pro organo pleno)
An der Orgel: Luise Hansen (Organistin an St. Cosmae zu Stade)
Italienische Orgel (1780) Eine kleine italienische Orgel in St. Cosmae steht als Dauerleihgabe einer Privatperson im Altar‐ raum und ermöglicht mit ihrer kleinen Disposi‐ tion eine originalgetreue Wiedergabe italieni‐ scher Orgelmusik des 17. und 18. Jahrhunderts. Außerdem eignet sie sich in idealer Weise, ein Ensemble mit Sängern und Instrumenten zu be‐ gleiten. Sie wurde in der Region Neapel um 1780 erbaut; der Erbauer ist unbekannt. Manual CDEFGA-c3 Principal 8' Voce Umana 8' (Diskant) Ottava 4' Flauto in Duodecima 2 2/3' Decimaquinta 2' Decimanona 1 1/3' Vigesimaseconda 1' „Ripieno“-Kollektivzug Stimmung: mitteltönig
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Hamburg (St.-Marien-Kirche) ____________________________________________________________ Die Kirche Die von 1889 bis 1893 im Stadtteil St. Georg im neo‐romanischen Stil erbaute Marienkirche ist die römisch‐katholische Pfarrkirche der Stadt Hamburg. Die Gestaltung der doppel‐ türmigen Westfassade knüpft an den Dom zu Bremen an. Sie ist der Nachfolgebau des bis 1248 in der Altstadt errichteten Mariendoms, der bis zur Einführung der Reformation im Jahre 1529 Konkathedrale des Erzbistums Bremen‐Hamburg war und 1807 abgebrochen wurde. Es ist der erste katholische Kirchenneubau in Hamburg seit der Reformation. Aufgrund der 1529 von Johannes Bugenhagen aufgestellten Hamburger Kirchenordnung waren öffentliche katholische Messfeiern bis zum Jahr 1807 verboten. Die Marienkirche ist eine dreischiffige Emporen‐ basilika aus Backstein mit Querhaus, Chor und Rundapsis in Nordostausrichtung. Der Grundriss ist kreuzförmig im gebundenen System. Die reprä‐ sentative Portalfront mit den beiden hohen spitz‐ helmigen Türmen ist reich mit Doppelfenstern, Bogenfriesen und Lisenen gegliedert und trägt in der Mitte eine Fensterrosette. Das Innere, bis auf die Apsis und die Querschiffe vollständig weiß gehalten, zeigt klassische Pro‐ portionen. Die Triforien sind zu Emporen erwei‐ tert. Ihre Arkadenbögen werden von Naturstein‐ säulen mit Würfelkapitellen getragen. Das Gesims‐ band oberhalb des Emporengeschosses verbin‐ det das Schiff mit der Apsis. Das Mittelschiff wird durch hohe Obergadenfenster beleuchtet. Die Arkadenbögen des Kirchenschiffs wiederholen sich als Blendarkaden in der Apsis. Hamburg: St. Marien-Kirche
Die im Zweiten Weltkrieg zerstörten Chorfenster wurden nach dem Vorbild von Glasfenstern mittelalterlicher Kathedralen ersetzt. Die moderne Buntverglasung der unteren Seitenschifffenster ist ein Zyklus von zehn Rund‐ bogenfenstern und einem Rundfenster des Künstlers Johannes Schreiter. Sie stellen Szenen aus dem Leben des Propheten Jesaja dar. Der massive neo‐romanische Taufstein stammt von dem Osnabrücker Bildhauer Heinrich Selig. Er ruht auf einem Sockel, der mit neo‐ romanischen Bögen und Säulen und am Beckenrand mit Ranken‐ und Blätterornamenten verziert ist. Erst 1901 wurden vier Bronzeglocken geweiht, die zu Beginn des Ersten Weltkrieges zu Kriegszwecken abgegeben werden mussten und verlorengingen. Im Jahr 1928 bekam die Kirche vier neue Bronze‐Glocken, hergestellt in der Glockengießerei Otto in Hemelingen.
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1943 mussten drei der Glocken wiederum zu Rüstungszwecken abgegeben werden. Zwei dieser Glocken wurden nach dem Krieg auf dem Glockenfriedhof im Hamburger Hafen wiedergefunden. Die verlorengegangene „Caritas“‐Glocke wurde nachgegossen. Im Dezember 1947 kehrten diese drei Glocken zurück in den Turm des Domes.
Die Orgel Die ursprüngliche Orgel der Marienkirche wurde von dem Hamburger Orgelbauer Paul Rother (1871‐1960) erbaut. Der aus Schweidnitz (Niederschlesien) stammende Rother hatte nach dem Tod des Hamburger Orgelbaumeisters Christian Heinrich Wolfsteller 1899 dessen „Hamburger Orgelbauanstalt“ übernommen bis 1950 fortgeführt. Nach Rothers Tod ist die Firma 1960 endgültig erloschen. Die heutige Orgel mit mit fünfzig Stimmen auf drei Manualen und Pedal errichtete die Werkstatt Rudolf von Beckerath (Hamburg) im Jahre 1967. Der Prospekt nimmt die Gestaltungsprinzipien des traditionellen „Hamburger Prospektes“ auf. Klanglich lehnt sich die Orgel an barocke Vorbilder an.
Textergänzung 2022 Anlässlich der Wiederbegründung des Erzbistums Hamburg nach 1100 Jahren am 7. Januar 1995 wurde die St. Marienkirche zur Kathedrale erhoben. Von Juli 2007 an wurde die Kirche umgestaltet. Mit der feierlichen Altarweihe am 23. November 2008 wurde sie als Neuer Mariendom (St.‐Marien‐Dom Hamburg) wieder eröffnet. Im Zuge dieser umfassenden Sanie‐ rung ist auch die Orgel 2008 durch die Werkstatt Beckerath generalüberholt wor‐ den. Das Instrument wurde um ein schwellbares Hinter‐ werk (im Prinzip ein französisches „Récit expressif“) sowie zwei Pedalregister (Untersatz 32′ und Bombarde 32′) erwei‐ Hamburg (St.-Marien-Dom): Beckerath-Orgel von 1967/2008 tert und mit einer neuen Spielanlage ausgestattet. Das ursprüngliche Fagott 32′ im Pedal wurde zu einem Fagott 16′ umge‐ arbeitet. Die Orgel hat nun insgesamt 65 Register auf vier Manualwerken und Pedal. Die Spieltrakturen sind mechanisch (Schleifladen), die Registertrakturen sind elektrisch. Außerdem erhielt das Instrument eine 4.000‐fache elektronische Setzeranlage.
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Hamburg (St.-Marien-Dom) Beckerath 1967/2008, IV/P/65 Hauptwerk (I) C-g3 Prinzipal 16′ Oktave 8′ Spielflöte 8′ Oktave 4′ Hohlflöte 4′ Quinte 2 2∕3′ Oktave 2′ Flachflöte 2′ Mixtur 6f Zimbel 3f Trompete 16′ Trompete 8′
Kronwerk (II) C-g3 Gedackt 8′ Quintadena 8′ Prinzipal 4′ Rohrflöte 4′ Oktave 2′ Nasat 1 1∕3′ Sifflöte 1′ Sesquialtera 2f Scharf 4f Krummhorn 8′ Schalmei 4′ Tremulant
Schwellwerk (III) C-g3 Gedackt 16′ Violprinzipal 8′ Gemshorn 8′ Schwebung 8′ Rohrflöte 8′ Oktave 4′ Blockflöte 4′ Nasat 2 2∕3′ Waldflöte 2′ Terz 1 3∕5′ Septime 1 1∕7′ Mixtur 5f Englisch Horn 16′ Oboe 8′ Tremulant
Pedal C-f1 Untersatz 32′ * Prinzipal 16′ Subbass 16′ Quinte 10 2∕3′ Oktave 8′ Rohrgedackt 8′ Oktave 4′ Nachthorn 2′
Rauschpfeife 3f Mixtur 6f Bombarde 32′ * volle Länge Posaune 16′ Fagott 16′ * 1967: 32′ Trompete 8′ Trompete 4′
Hinterwerk * (IV) C-g3 (schwellbar) Flûte allemande 16′ Flûte harmonique 8′ Viola da Gamba 8′ Voix célèste 8′ Principal 4′ Fugara 4′ Flûte octaviante 4′ Octavin 2′ Cornett 5f 8′ Plein-Jeu 5f 2′ Trompette harmon. 8′ Voix humaine 8′ Clarion harmonique 4′ Tremulant
*) neu 2008 Koppeln: II/I, III/I, IV/I, III/II, IV/II, IV/III, IV-Super, IV-Sub, I/P, II/P, III/P, IV/P, Super IV/P Register-Crescendo 4.000 Setzerkombinationen Mechan. Spiel- und Registertraktur Schleifladen mit Tonkanzellen
Hamburg (St.-Marien-Dom): Spielanlage der Beckerath-Orgel nach dem Umbau 2008
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Hamburg (St.-Jacobi-Kirche) ____________________________________________________________ Die Kirche Erstmals wird diese Kirche – für das vierte Kirchspiel im mittelalterlichen Hamburg – 1255 urkundlich erwähnt, gebaut für den östlichen Wohnbezirk der Gärtner, Ackerbürger und Handwerker. Der heutige Bau ist in seinen wesentlichen Teilen in mehreren Abschnitten seit dem Ende des 13. Jahrhunderts entstanden: eine zunächst dreischiffige Hallenkirche aus Backstein mit Chor im 5/8‐Schluss und entsprechenden Nebenchören. Die gesamte Anlage ist der Stader Wilhadi‐Kirche sehr ähnlich. Zwar zählt das Schiff von St. Jacobi nur fünf Joche, doch die Übereinstimmung der Detailformen mit dem westlichen Bauabschnitt in Stade ist deutlich erkennbar. Die an der Nordostecke gelegene Sakristei wird von vier Kreuzgratgewölben überspannt, die in der Raummitte durch eine schlanke Säule getragen werden. Der obere Schaftteil und das Kapitell dieser Säule tragen in ornamental gestalte‐ ter gotischer Inschrift das Vollendungsjahr 1434 des mittelalterlichen Bauwerks. Ende des 15. Jahrhunderts wurde die Kirche nach Süden um ein viertes Schiff erweitert. Die Sakristei wurde durch den sog. Herrensaal in der Mitte des 16. Jahrhundert aufgestockt. Die malerischen barocken Anbauten an der Nordseite des Schiffes verbinden beispielhaft das Bauwerk mit seiner ehemals kleinmaß‐ stäblichen Umgebung. Der quadratische West‐ turm wurde im Laufe der Baugeschichte viel‐ fach verändert. Die jetzige Situation zeigt eine deutliche Parallelität zu unserer Bielefelder Nicolaikirche: Anstelle der im letzten Krieg zerstörten Haube wurde auf den gotischen Turmstumpf durch die Architekten Hopp und Jäger, die auch in Bielefeld den Wiederaufbau ausführten, eine hochaufragende Pyramide un‐ ter Einschaltung eines oktogonalen Zwischen‐ Hamburg: St.-Jacobi-Kirche körpers aufgesetzt. Die Ausstattung gewinnt durch drei bedeutende Altäre des späten Mittelalters ihre hohe Bedeutung. Alle drei sind Stiftungen von Zünften: Hauptaltar ist der Trinitatis‐Altar der Böttcher, ein Triptychon mit gemalten Flügeln (vor 1518), im geschnitzten Mittelschrein die Darstellung der Dreieinigkeit, auf den Flügeln Szenen aus dem Marienleben. Die gemalten Außenflügeln (bei aufgeklapptem Altar hinten) zeigen Darstellungen aus dem Themenkreis der Geburt Christi. In der südlichen Seitenapsis steht der Altar der Fischerzunft,
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der kurz nach 1500 zu datieren ist: Der Mittelschrein zeigt eine Mondsichel‐Madonna zwischen Petrus und der Hl. Gertrud. Auf den beiden gemalten Flügeln fin‐ den sich Szenen aus dem Leben dieser Heiligen. Im Chor des vier‐ ten (südlichen) Schiffes fand der ursprünglich aus dem Dom stam‐ mende Lukas‐Altar, eine Stiftung der Malerzunft von 1499, seinen Platz. Der geschnitzte Mittelschrein stellt den Hl. Lukas als Porträtisten der Gottesmutter und der Katha‐ Hamburg (St. Jacobi): Blick nach Osten rina dar. Die Flügel sind beidseitig bemalt, die Innenseiten zeigen links das Abendmahl und rechts den Tod des Hl. Lukas. Die Flügel werden dem jungen Heinrich Bornemann zugeschrieben. Von besonderem Reiz ist die aus verschiedenfarbigem Marmor und Alabaster durch den Steinbildhauer Georg Bornemann gefertigte Kanzel (1609/10): Die Reliefs stellen Szenen aus dem Leben Jesu und die Evangelisten dar, dazu als vollplasti‐ sche Figuren Petrus, Paulus und Jakobus major. Die Kirche ist mit einem reichen Schmuck von Epitaphien und Gemälden aus dem 17. und 18. Jahrhundert ausgestattet. Der Herrensaal über der Sakristei gibt ein spätes Beispiel einer geschlossenen barocken Ausstattung mit Ausmalung und Landschaftstapete (1712). Auch die Zeit des Wiederaufbaus im 20. Jahrhundert ist durch einige beachtenswerte Kunstwerke dokumentiert: Die Chorfenster stammen vom Münchner Glasmalers Crodel, das Bronzeportal von Jürgen Weber (Braunschweig).
Die Arp-Schnitger-Orgel Die Orgel der Hamburger Hauptkirche St. Jacobi wurde in der Zeit von 1689 bis 1693 von Arp Schnitger gebaut. Sie verfügt über 60 Register (darunter 15 Zungenstimmen) auf vier Manualen und Pedal mit insgesamt knapp 4.000 klingenden Pfeifen. Seit ihrer Erbauung und der teilweisen Zerstörung im Zweiten Weltkrieg wurden an der Orgel nur wenige Veränderungen vorgenommen. Der alte Pfeifenbestand blieb bis auf die Prospektpfeifen fast vollständig erhalten. Sie ist das größte Orgelwerk aus der Zeit vor 1700 und zählt zu den bedeutendsten erhaltenen Barockorgeln. Die ersten Nachrichten über Orgeln und Organisten an St. Jacobi gehen bis in das Jahr 1301 zurück. Aus dem Jahre 1443 ist bekannt, dass an der Westseite der Kirche eine kleine Orgel gestanden hat, die aber 1512 abgebrochen wurde. 1512‐16 entstand ein größeres Orgelwerk mit zwei Manualen und Pedal, dessen Erbauer Jakob Iversand und Harmen Stüven waren. Aus dieser Orgel, die vergoldete Prospektpfeifen und große, bemalte Flügel‐ türen hatte, ist noch heute ein Register (Rohrflöte 4‘ im HW) erhalten. Schon vor 1543 ist
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dieses Instrument um ein Rückpositiv erweitert worden. Weitere Umbauten und Erweite‐ rungen erfolgten im 16. und 17. Jahrhundert durch Orgelbaumeister Jacob Scherer (ab 1551), Scherers Schwiegersohn Dirk Hoyer (1578), der ein neues Rückpositiv und zwei neue Pedaltürme baute, Hans Bockelmann (1589) und Hans Scherer der Ältere (1592), die ein neues Oberwerk ergänzten. Bald zeigten sich ernsthafte Mängel. So wird z. B. berichtet, dass unter dem Rückpositiv ein Korb zum Auffangen herabfallender Pfeifen („zum Schutze der Gottesdienstbesucher“) aufgestellt wurde. Deshalb wurden zunächst durch Hans Scherer d. Ä. zwölf Register (haupt‐ sächlich im Rückpositiv) ausgewechselt. 1590‐92 hat Scherer, zusammen mit dem Orgel‐ bauer Hans Bockelmann ein neues Oberwerk hinzugefügt, so dass die Orgel um diese Zeit über vier Manualwerke verfügte (HW, OW, BW, RP), wobei OW und BW von einem Manual aus gespielt wurden. Nach 1607 (während der Amtszeit des damaligen Jacobi‐Organisten Hieronymus Praetorius) wurden weitere, meist gemischte Stimmen durch Scherer und seine Söhne eingebaut. 1619 wird durch Michael Praetorius („Syntagma Musicum“) erst‐ mals die Disposition schriftlich fixiert (53 Register, vier Manualwerke auf drei Klaviaturen, Pedal). 1636 erweiterte Gottfried Fritzsche durch einen großen Umbau den Klaviaturumfang des Renaissanceinstruments auf vier Oktaven und vier Klaviaturen. Er richtete dabei in der Klaviatur des Rückpositivs sieben geteilte Obertasten (Subsemitonien) für die zusätzlichen Töne dis, gis und ais ein (von dis° bis dis2). Der damalige Jacobi‐Organist Ulrich Cernitz (1598‐1654), ein Schüler des berühmten „Hamburger Organistenmachers“ Jan Pieterszon Sweelinck, berichtete ausführlich über diese Maßnahmen, an deren Ende das Instrument über 56 Register verfügte. Fritzsches Sohn Hans Christoph renovierte die Orgel 1655‐1658 in größerem Umfang. Ob diese Arbeiten 1655 schon in Hinsicht und vielleicht sogar in Absprache mit dem neuen Organisten Matthias Weckmann durchgeführt wurden, ist nicht bekannt. Er muss aber bei diesen Arbeiten ab Amtsantritt Ende 1655 mit Hans Chris‐ toph Fritzsche eng zusammengearbeitet haben. Weckmann hatte die Stelle bis zu seinem Tod Anfang 1674 inne. Inzwischen war Hamburg neben Lübeck zu einem Mittelpunkt des norddeutschen Orgel‐ spiels geworden, kompositorische Meisterleistungen entstanden, selbständige Orgel‐ und andere Kirchenmusiken wurden durch Matthias Weckmann neu eingeführt: Damit hatten die berühmt gewordenen „Abendmusiken“ gleich zwei Geburtsstätten: Lübeck (Tunder) und Hamburg (Weckmann). So wundert es nicht, dass man dem bekanntesten und fähigsten Orgelbauer Arp Schnitger 1689 mit dem Bau einer neuen, großen Orgel für St. Jacobi beauftragte. Zu dieser Zeit hatte Schnitger soeben sein größtes Werk (IV/P/67) für St. Nicolai vollendet. Aus dem Vorgängerinstrument in St. Jacobi übernahm Schnitger 27 Register, von denen das älteste noch aus der ursprünglichen Orgel (1516) stammt, und erweiterte das vier‐ manualige Instrument auf 60 Register. Brauchbare Teile aus einer vorhandenen, älteren Orgel zu übernehmen war zu jener Zeit durchaus üblich und geschah zumeist aus Sparsam‐ keitsgründen oder aber aus Ehrfurcht vor den Vorgänger‐Orgelbauern und ihrer Kunst.
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Gegen den Rat von Johann Adam Reincken, Organist an St. Katharinen, erhielt das Pedal einen Principal 32′ und eine Posaune 32′, die als be‐ sonders prestigeträchtig gal‐ ten. Die einzelnen Teilwerke haben die Bezeichnungen: Werck (Hauptwerk), Rück‐ positiv, Oberpositiv, Brust‐ positiv und Pedal.
Hamburg (St. Jacobi): Schnitger-Orgel von 1693
Der Prospekt der Schnitger‐ Orgel in St. Jacobi ist das größ‐ te existierende Beispiel des „Hamburger Prospekts“ mit dem mehrteiligen Werkauf‐ bau, der von der Orgelbauer‐ familie Scherer in Hamburg um 1600 entwickelt wurde. Charakteristisch dafür ist die symmetrische Anlage mit den
großen seitlichen Pedaltürmen und der Höhen‐ staffelung der Manualwerke, wobei das Ober‐ positiv nicht im Prospekt in Erscheinung tritt. Es steht in erhöhter Position hinter dem Haupt‐ werk, das keine Rückwand besitzt. Die direkte Klangwirkung geschieht durch die weit herun‐ tergezogenen Gewölbe, die eine sehr gute Klangabstrahlung in den Raum bewirken. Die Figuren des Prospekts wurden von Christian Precht geschnitzt; sie gehören zu seinen spä‐ testen bekannten Werken. Die endgültige Fertigstellung der Orgel zog sich bis Anfang des Jahres 1693 hin. Zur Anordnung der Teilwerke der Orgel: Orgelabnahme erschienen die Sachverstän‐ in der Mitte das Hauptwerk (Werck), darüber das Oberpositiv, darunter das digen Christian Flor (St. Johannis/Lüneburg), Brustpositiv, flankiert von den beiden Andreas Kneller (St. Petri/Hamburg) und Vincent Pedaltürmen, in der Brüstung das Lübeck (St. Cosmae/Stade). Das Instrument Rückpositiv kostete insgesamt 29.108 M., davon erhielt der Orgelbauer 17.220 M. Als Dank machte Arp Schnitger ein Jahr später dem als großen Musikfreund bezeichneten Hauptpastor Dr. Mayer eine Hausorgel mit acht Registern als Geschenk.
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St. Jacobi besaß in diesem Meisterwerk ein aufsehenerregendes Instrument, das bald die namhaften Orgelkomponisten und ‐spieler der damaligen Zeit anzog. Der spätere Lüne‐ burger Johannis‐Organist Georg Böhm (der zu dieser Zeit zur Gemeinde St. Jacobi gehörte) wie auch Georg Friedrich Händel dürften die Orgel gekannt und gespielt haben. Nach dem Tode des damaligen Jacobi‐Organisten Hinrich Frese bewarb sich 1720 kein Geringerer als Johann Sebastian Bach von Köthen aus um dieses begehrte Amt. (Die Komposition seiner großen Fuge in g‐Moll BWV 542 steht in unmittelbarem Zusammen‐ hang mit dieser Bewerbung). Aber nicht er, sondern Johann Joachim Heitmann hat diese Stelle erhalten, die dieser sich mit „4000 M. für die Kirchenkasse“ erkaufte und darüber hinaus die Tochter des Hauptpastors ehelichte – eine damals keineswegs ungewöhnliche Handlungsweise. An diesem Beschluss änderte auch eine Eingabe des Jacobi‐Haupt‐ pastors (Magister Erdmann Neumeister, der ein bekannter Dichter geistlicher Lieder war, und dessen Texte Bach in seinen Kantaten schon vertont hatte) nichts, als er in jenen Tagen eine seiner Predigten schloss: „Ich glaube ganz gewiss, wenn auch einer von den Bethlehemitischen Engeln vom Himmel käme, der göttlich spielte und wollte Organist zu St. J. [Jacobi] werden, hätte aber kein Geld, so möge er nur wieder davonfliegen ...“ Tatsächlich ist belegt, dass Bach an der großen Orgel in der benachbarten Katharinen‐ kirche spielte. Der Zustand der Jacobi‐Orgel war vorübergehend nicht sehr gut, und Bach reiste vor dem offiziellen Probespiel ab. 1722 wurde die Orgel von Otto Diedrich Richborn überholt, der eine kleine Veränderung der Disposition vornahm. Der Hamburger Orgelbauer Johann Jacob Lehnert änderte 1761 die Disposition geringfügig. 1775 erneuerte Johann Paul Geycke den Spieltisch. Weitere Umdisponierungen wurden 1790 durch Johann Daniel Kahl, 1836 und 1846 durch Johann Gottlieb Wolfsteller durchgeführt. 1866 wurden neue Kanäle und Ausgleichsbälge gebaut. Eine weitere Dispositionsänderung und der Einbau einer zusätzlichen pneumatischen Lade mit fünf Registern wurde 1890 durch Marcussen vorgenommen. 1917 mussten drei im Prospekt stehende Register an die Heeresverwaltung zur Metall‐ sammlung im Ersten Weltkrieg abgegeben werden (HW Prinzipal 16', RP Prinzipal 8', Pedal Prinzipal 32‘, von dem jedoch noch die Originalpfeifen g0 ‐ d1 im Innern erhalten sind). 1919 wurden der Schriftsteller und Orgelbauer Hans Henny Jahnn und der Musikverleger Gottlieb Harms auf die „trostlos abgetakelte“ Orgel aufmerksam, informierten den Kirchen‐ rat und Hamburger Senat und verhinderten den geplanten Abriss und Neubau. Sie setzten sich für die Instandsetzung und den Ersatz der fehlenden Prospektpfeifen ein und erhiel‐ ten schließlich die Bewilligung zu einer Restaurierung. Mit der Durchführung der 1922 beginnenden Benefizkonzerte konnten wesentliche Finanz‐ mittel dafür aufgebracht werden. H. H. Jahnn gewann den damaligen Leipziger Thomas‐ organisten Günther Ramin für die Konzerte, der zum ersten Mal wieder Kompositionen von Hamburger Organisten des 17. Jahrhunderts neben Werken von Buxtehude und Bach zu Gehör brachte. Bei der von H. H. Jahnn initiierten Orgeltagung in Hamburg und Lübeck im Juli 1925 rückte die Schnitger‐Orgel in St. Jacobi in den Mittelpunkt des Interesses der damaligen Orgelszene in Nordeuropa. Sie wurde als vorbildliches Instrument für die barocke und vorbarocke Orgelmusik wahrgenommen.
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Die kurzen Oktaven Schnitgers wurden von der Werkstatt Kemper (Lübeck) bei der Wiederherstellung der Orgel in den Jahren 1926‐1930 zur großen Oktave vervollständigt. Die Klaviaturumfänge sind dabei in allen Manualen im Diskant um cis3 und d3, im Pedal um dis1, e1 und f1 ergänzt worden. Der Großteil der Register Schnitgers blieb erhalten, ebenso sämtliche Schnitger‐Windladen (Eiche). Auch alle Figuren und Ornamente sind original (einschl. Zimbelstern), bis auf die Schleierbretter der Pedaltürme (1960/61). Während des Zweiten Weltkrieges wurden 1942 sämtliche Pfeifen, Windladen und alle wesentlichen Teile des Dekors in einem Bunker im Fundament des Turmes eingelagert. Doch am 18. Juni 1944 wurde die St. Jacobikirche bei Bombenangriffen ein Opfer der Flammen. Orgelgehäuse, Balganlage und der Spieltisch von 1775 wurden zerstört, aber der Bunker hielt stand. Die Auslagerung hatte die klangbestimmenden Teile der Orgel vor der Vernichtung gerettet. Nach der Wiederherstellung des nur wenig zerstörten Südschiffs erfolgte hier 1948‐1950 eine provisorische Aufstellung der Orgel (zunächst zu ebener Erde) durch die Lübecker Orgelwerkstatt Karl Kemper. Erst nach der baulichen Instandsetzung der gesamten Kirche konnte die Schnitger‐Orgel 1959 endlich wieder ihren historischen Platz an der Westwand einnehmen. Sie wurde am 29. Januar 1961 nach zweijähriger Orgelbauarbeit (Kemper) wieder in Gebrauch genommen. Dabei wurde ein neues Gehäuse im alten Werkaufbau, eine Erweiterung der Klaviaturumfänge mit den erforderlichen Angleichungen im techni‐ schen Bereich und eine äußerst schwergängige Traktur von Kemper angelegt. Der neue Prospekt ist dem Schnitgerschen nachgebildet und trägt in seinen Maßen der jetzt voll ausgebauten großen Oktave Rechnung. Auch der Spieltisch mit Registerzügen in Form von Köpfen wurde neu erbaut. Die Züge stellen Kirchenvorsteher, am Wiederaufbau beteiligte Orgelbauer und einige um die Orgel verdiente Persönlichkei‐ ten dar. Soll z. B. im Ober‐ positiv das Gemshorn 2‘ erklingen, so ziehe man den „Albert‐Schweitzer‐Kopf“. Für die Bach‐Interpretation hat Hamburg (St. Jacobi): Spieltisch 1961-1990 die Schnitger‐Orgel von St. Jacobi mit holzgeschnitzten Köpfen an den Registerzügen modellhaften Charakter. Denn nach Philipp Emanuel Bachs Aussage soll Vater Bach oft bedauert haben, „dass es ihm nie so gut hat werden können, eine recht große und recht schöne Orgel zu seinem beständigen Gebrauche gegenwärtig zu haben.“ Den Anforderungen Bachscher Orgelmusik entspricht die viermanualige Arp‐Schnitger‐Orgel in weitaus größerem Maße als die Orgeln im mitteldeutschen Raum, an denen Bach wirkte. Diese Orgeln führten (unter Verzicht auf das Werkprinzip) zu einer ausgeglichenen, weniger abwechslungsreichen Disposition
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(auch bei Silbermann), Bach jedoch verlangt in seinen Werken für das solistische Spiel eine weitgehende Klang‐ verschmelzung, wie es die obertonreiche und mit vielchörigen Mixturen ausge‐ stattete Schnitger‐Orgel in ihrer vollausgebauten Klang‐ pyramide auf der Basis der Prinzipale anbietet. „Sie ist die ideale Bach‐Orgel“ (Gustav Fock); „Sie stellt in einheitlich organischer Vielgliedrigkeit und sinnreich realisierter Großzü‐ Hamburg (St. Jacobi): Neuer Spieltisch 1993 gigkeit den Höhepunkt der klassischen Orgelbaukunst überhaupt dar.“ (Hans Klotz). Als die „Organisten‐Tagung in Hamburg‐Lübeck“ im Jahre 1925 bedeutende Organisten und Orgelbauer (unter ihnen Günther Ramin/Leipzig und Karl Straube/Leipzig) um die Schnitger‐Orgel in St. Jacobi versammelte, war dies die Keimzelle und der Meilenstein für die Orgelerneuerungs‐ bewegung „Zurück zur wahren Orgel!“ (Albert Schweitzer). Schweitzer schrieb 1928: „Die Orgel von St. Jacobi ist eine der wertvollsten Orgeln der Welt. Erbaut von einem der größten Orgelbaumeister der Vergangenheit, ist sie uns heute ein unersetzliches Denkmal für den vollendeten Klangcharakter der Instrumente der klassi‐ schen Zeit der Orgelmusik.“
Textergänzung 2022 Das Resultat all dieser Bemühungen der letzten 100 Jahre um die Annäherung an den alten Zustand der Schnitger‐Orgel erwies sich klanglich uneinheitlich und technisch unbe‐ friedigend. Die Verwendung von verschiedenen Winddrücken in den Manualwerken und im Pedal entsprach nicht der historischen Praxis. Das Pfeifenwerk war unterschiedlich im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts gekürzt worden im Zuge einer Angleichung an die moderne Tonhöhe und der Versetzung vieler Pfeifen auf den Windladen. Der Klang des Prinzipalchors war zu flötig und der Klang der Flöten zu gleichartig. Die Zungenstimmen hatten keine Egalität innerhalb ihrer Tonlagen. Weiterhin stimmten die Proportionen der Gehäuse nicht mehr, da auf die Erweiterungen des Tonumfangs im Bassbereich mit vielen zusätzlichen großen Pfeifen Rücksicht genommen werden musste. Andererseits war die klangliche Substanz durchaus noch erkennbar und übte weiterhin eine Faszination auf die Zuhörer aus. Der Impuls zu einer grundlegenden Restaurierung und einer Beseitigung der technischen und klanglichen Mängel kam von Rudolf Kelber, der 1982 die Kirchenmusikerstelle an St. Jacobi antrat. Die Diskussion mündete in den Konsens, dass das Konzept einer Wieder‐
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herstellung des alten Zustandes der Jacobi‐Orgel mit allen erhaltenen Bestandteilen bis zum späten 18. Jahrhundert angestrebt wurde. Dazu gehörten die Register von Johann Jacob Lehnert aus dem Jahre 1761 (die Viola di Gamba 8′ im Werck und die Trommet 8′ im Rückpositiv). Eine Rekonstruktion des Spieltisches von 1774 wurde nicht angestrebt, da hier im Hinblick auf eine später nicht ausgeführte Erweiterung die ausgebaute tiefe Oktave vorhanden war. Es machte mehr Sinn, auf das Konzept von Schnitger mit der kurzen Oktave in den Manualklaviaturen nach dem Modell des erhaltenen Schnitger‐ Spieltisches aus der alten Lübecker Domorgel zurückzugehen. Wesentlich war die Rückgewinnung der ursprünglichen Gehäuseproportionen mit den originalen Windladenmaßen Schnitgers. Ein Kompromiss war die Hinzufügung des Tones Dis (oder Es) in der Bassoktave des Pedals auf einer Zusatzlade, die außerhalb der Gehäuse aufgestellt wurde. Die Windanlage wurde mit sechs Keilbälgen im oberen Bereich des hinter der Orgel liegenden Turmraums aufgestellt. Mit dieser umfassenden Restaurierung wurde Jürgen Ahrend (Leer‐ Loga) 1986 beauftragt. Er gilt als der heraus‐ ragende Kenner der Schnitger‐Orgeln und kann in seiner Werkstatt alle Ressourcen zu die‐ sem Projekt vorweisen. Dazu gehörte auch ein jahrzehntelang abgela‐ gerter Holzvorrat. Exakt dreihundert Jahre nach der Vollendung des Or‐ Hamburg (St. Jacobi): Neuer Spieltisch 1993 gelbaus durch Arp Schnit‐ mit kurzer Oktave (Man. II-IV) und gebrochener Oktave (Man. I) ger konnte 1993 das re‐ staurierte und rekonstruierte Werk in Gebrauch genommen werden. Cornelius H. Edskes, der führende niederländische Organologe und Schnitger‐Kenner, führte eine akribische Dokumentation durch, um die Restaurierung auf eine sichere Grundlage zu stellen. Die Diskussion um die Stimmung der Orgel führte zur Entscheidung für eine modifizierte mitteltönige Stimmung. Sie ist ein Kompromiss zwischen dem Befund einer annähernd terzenreinen mitteltönigen Stimmung und den Anforderungen zum Spiel vieler Meister‐ werke der Orgelliteratur aus dem 17. und 18. Jahrhundert in Tonarten mit mehreren Vorzeichen. Der Befund einer mitteltönigen Stimmung war an den Pfeifenlängen der noch erhaltenen Schnitger‐Innenpfeifen vom Principal 32′ im Pedal abzulesen. Die Orgel verfügt nun wieder über 60 Register mit knapp 4.000 Pfeifen. Sie gilt mit ihren 43 noch vorhandenen originalen Registern als die größte erhaltene Schnitger‐Orgel.
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Hamburg (St. Jacobi) Scherer 16./17. Jh., Fritzsche 1636, Schnitger 1693, Lehnert 1761, Ahrend 1993, IV/P/60 Werck (II) CDEFGA-c3 Principal 16′ A Quintadehn 16′ F/S Octava 8′ vSch/Sch/S Spitzflöht 8′ S Viola di Gamba 8′ L Octava 4′ Sch/S Rohrflöht 4′ Sch/S Super Octav 2′ S Flachflöht 2′ A Rauschpfeiff 2f Sch/S Mixtur 6-8f F/S Trommet 16′ F/S
Rückpositiv (I) CDE-c3 Principal 8′ A Gedackt 8′ Sch/F Quintadehna 8′ Sch/F Octava 4′ F/A Blockflöht 4′ Sch/F Octava 2′ F/S Querpfeiff 2′ F/A Siffloit 1 1∕2′ F Sexquialtera 2f F/S Scharff 6-8 F/A Dulcian 16′ S Bahrpfeiffe 8′ S/A Trommet 8′ L/A Cimbelstern
Brustpositiv (IV) CDEFGA-c3 Principal 8′ F Octav 4′ S/A Hollflöth 4′ S Waldtflöht 2′ S Sexquialter 2f Sch/F Scharff 4-6f S Dulcian 8′ S Trechter Regal 8′ S
Pedal CD-d1 Principal 32′ Octava 16′ Subbass 16′ Octava 8′ Octava 4′ Nachthorn 2′ Rauschpfeiff 3f Mixtur 6-8f
vSch Sch F S L A
= = = = = =
A/S S S S F S F/S F/A
Oberpositiv (III) CDEFGA-c3 Principal 8′ S/A Rohrflöht 8′ S Holtzflöht 8′ S Octava 4′ Sch Spitzflöht 4′ S Nasat 3′ S Octava 2′ F Gemshorn 2′ Sch/F Scharff 4-6f F/A Cimbel 3f S/A Trommet 8′ S Vox humana 8′ S Trommet 4′ S/A
Posaune Posaune Dulcian Trommet Trommet Cornet
vor Scherer Scherer 16./17. Jh. Fritzsche 1636 Schnitger 1693 Lehnert 1761 Ahrend 1993
Manual-Schiebekoppeln III/II, IV/II (Ahrend) Mechanische Spiel- und Registertraktur (Ahrend) Zwei Tremulanten (Ahrend) Zimbelstern (Ahrend), Trommel (Ahrend) Sechs Keilbälge (Ahrend) Zwölf Windladen (Schnitger) Ein Hauptventil und fünf Sperrventile für die Einzelwerke (Ahrend) Winddruck: 80 mm WS Stimmung: Höhe a1= 495Hz Modifiziert mitteltönige Stimmung
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32′ 16′ 16′ 8′ 4′ 2′
S S S S S S
Die Kemper-Orgel Bereits 1928 wurde die Notwendigkeit einer zweiten Orgel erwähnt, weil einerseits die Stimmung der Schnitger‐Orgel einen Ton über der Normalstimmung liegt und andererseits die Verständigungsmöglichkeiten zwischen Dirigent und Organist durch weite Entfernun‐ gen erschwert werden. Zu diesen beiden äußerlichen Gründen kommt aber noch ein viel wesentlicherer: Sowohl der begrenzte Tastenumfang der Orgel als auch die einmalige, charakteristische historische Klanggestalt würden dazu führen, dass den Musikfreunden von St. Jacobi unzählige wertvolle Orgelkompositionen aus der Zeit nach Bach bis zur Gegenwart vorenthalten werden müssten. Diese Erkenntnisse führten 1960 zum Bau einer zweiten Orgel, ausgeführt von Emanuel Kemper & Sohn (Lübeck). Es galt also, die historische Schnitger‐Orgel für die ihr historisch angemessenen Aufgaben zu bewahren und durch ein neues Instrument jene Ergänzung zu schaffen, die über ihre Entstehungszeit hinausgeht. Diese als „Universalinstrument“ im Sinne der Orgelbe‐ wegung disponierte Orgel entstand in einem ersten Bauabschnitt in drei Etagen am Ende des südlichen Seitenschiffes. Es hatte auf drei Manualen und Pedal zunächst 45 Register und wurde am 1. Advent 1960 ein‐ geweiht. 1968-70 erweiterte die Werkstatt Kemper die Orgel auf 63 Register. Die Orgel erhielt einen Prospekt zum Steinstraßenschiff hin, ein zweites Schwellwerk wurde – janusköpfig – in dem blinden Fenster etabliert. Auf den drei Manualen des Instrumentes erklingen vier Werke: Das sog. Seitenwerk ist keinem der vorhandenen Manuale zugeordnet, sondern kann auf jede Manual‐ klaviatur geschaltet werden. Es ist so aufgestellt, dass auch das nach 1945 vom großen Kirchenraum abge‐ trennte Steinstraßen‐ Hamburg (St. Jacobi): Orgeln Kemper links und Schnitger rechts Schiff mit Orgelmusik versorgt werden kann, wozu der fahrbare Spieltisch beiträgt. Dieses Seitenwerk enthält vorwiegend Solostimmen im Schweller, die durch drei Prinzipale ergänzt werden (im Prospekt), die dem relativ kleinen Werk die nötige Klangkraft verleihen. In der Hauptorgel hat das Seitenwerk die Funktion eines reinen Solowerkes; auch zum Hauptraum der Kirche hin ist es schwellbar. Die beiden Schweller sind so konstruiert, dass sich beim Öffnen des einen der andere schließt und somit eine klangabstrahlende Wirkung hat.
Hamburg (St. Jacobi): Kemper-Orgel
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Bei der Erweiterung von 1970 wurde vor allem das Hauptwerk wesentlich verstärkt. Mit dem Einbau eines neuen Registers „Pommer 32“ (eine sehr seltene Manualbesetzung; hier als Extension d. h. Auszug aus dem vorhandenen Pommer 16‘) ging man auf eine alte Tradition des Orgelbauers Friedrich Ladegast (1818‐1905) zurück, der sie zum ersten Mal in der Nicolai‐ kirche in Leipzig verwirklichte. Durch dieses Register wird ein ungemein voller und satter Klang erzeugt, wie ihn beispielsweise manche Werke Max Regers erfordern. Weiterhin wurden die Prinzipale der 8‘‐ und 4‘‐Lage des Hauptwerks verdoppelt, zu deren gros‐ ser Klangfülle noch die Klangkronen Hamburg (St. Jacobi): Kemper-Orgel zweiter Prospekt im Steinstraßen-Schiff mit ihrer insgesamt 18‐20fachen Be‐ setzung hinzukommen. Aus Platzgründen konnte im Pedal leider kein offenes 16‘‐Register aufgestellt werden, so müssen vier gedeckte 16'‐Stimmen diese Basisfunktion erfüllen. Außerdem wurde im Pedal eine neue Posaune 32‘ mit voller Becherlänge (Holz) gebaut und in den Prospekt gestellt. Einen reizvollen Kontrast bieten die drei 8‘‐Trompeten im Hauptwerk, Seitenwerk und Schwellwerk. Aufgrund ihrer vorwie‐ gend romantisch‐modernen Konzeption wurde die Orgel besonders reich mit strei‐ chenden Registern ausgestattet: Gambe und Suovalflöte im HW, Dolce im OW, Salicional und Voix céleste im SW, aber auch die zahlreichen Flötenstimmen ge‐ statten abwechslungsreiche Registrie‐ rungen. Hinzu kommen stark färbende Obertonstimmen (None, Sesquialtera und Hamburg (St. Jacobi): Streichmixtur im SW, Zwergzimbel im OW Spieltisch der Kemper-Orgel und Kornett im Seitenwerk), die vor allem bei der Interpretation zeitgenössischer Werke ihre Bedeutung haben mögen. Ein besonders reizvolles Register ist das „Hölzern Gelächter“ im Schwellwerk (ein Xylophon), das völlig neuartige Klangwelten erschließt, aber auch schon zu früheren Zeiten gebaut wurde. So ist im Wechselgesang dieser beiden Instrumente von St. Jacobi, in Gottesdienst und Konzert, die Interpretation eines großen Spektrums der Orgelliteratur aus vielen Jahrhun‐ derten möglich.
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Textergänzung 2022 Die Kemper‐Orgel wurde 2007/08 durch die Orgelbau‐ und Restaurierungswerkstatt Rainer Wolter (Dresden) restauriert. Dabei sind die extremsten Auswüchse der „Orgel‐ bewegung“ in der Disposition wie z. B. isolierte Obertöne beseitigt worden, aber Eigen‐ heiten wie die Konstruktion der Taschenladen und der historische Spieltisch blieben erhalten. Die wichtigste Maßnahme war eine grundsätzliche Neuzusammensetzung der Mixturen, die sich nun besser mit dem restlichen Klang verbinden. Die ehemalige Flach‐ flöte 2', die von 1924 bis 1989 in der Schnitger‐Orgel stand, wurde aus Pietätsgründen bewahrt und erklingt nun als Jahnn‐Flöte 2' (in Erinnerung an den Initiator der Erhaltung der Schnitger‐Orgel im Jahre 1922, Hans Henny Jahnn) im Seitenwerk der Kemper‐Orgel. Seit der Restaurierung der Kemper‐Orgel 2008 hat das Instrument 66 Register (darunter fünf Transmissionen) auf drei Manualwerken und Pedal. Eine Besonderheit ist das Perkus‐ sionsregister „Hölzern Gelächter“, ein Xylophon. Die beiden Orgeln der St.-Jacobi-Kirche Hamburg werden mit folgenden Werken vorgestellt: Schnitger‐Orgel: Vorführung der einzelnen Register Johann Sebastian Bach (1685‐1750): Toccata in C‐Dur BWV 564 Kemper‐Orgel: Vorführung der einzelnen Register Max Reger (1873‐1916): Fantasie über B‐A‐C‐H op. 46
An der Orgel: Prof. Heinz Wunderlich Organist an St. Jacobi Hamburg
Heinz Wunderlich wurde 1919 in Leipzig geboren studierte an der Musikhochschule Leipzig Orgel bei Karl Straube 1943‐1957 Kirchenmusikdirektor an der Moritzkirche in Halle/Saale und Orgeldozent an der dortigen Musikhochschule 1958‐1982 Kirchenmusikdirektor an St. Jacobi in Hamburg 1959‐1989 Professor für Orgel an der Musikhochschule Hamburg widmete sich nach seiner Emeritierung 1989 verstärkt dem Komponieren starb 2012 im Alter von 92 Jahren in Großhansdorf bei Hamburg am Spieltisch der Kemper‐Orgel in St. Jacobi, Hamburg am 22. April 1979
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Erste Seite aus Max Regers „Phantasie über B-A-C-H“ op. 46 für Orgel aus Heinz Wunderlichs Partitur, mit seinen Fingersätzen und Anmerkungen
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Hamburg (St. Jacobi): Kemper-Orgel Kemper 1960/1970, Wolter 2008, III/P/61 + 5 Transm. Hauptwerk (I) C-a3 Pommer ab c°, Ext. 32’ U Pommer 16’ Prinzipal 8’ Holzprinzipal 8’ Gambe 8’ Unda maris 8’ U Große Oktave 4’ Oktave 4’ Quinte 2 2∕3’ U Oktave 2’ Terz 1 3∕5’ U Mixtur 6-8f 2’ U 2∕ ’ U Scharff 4f 3 Trompete 16’ W Trompete 8’ W Prinzipal 8’ Süd Oktave 4’ Süd Tremulant
Oberwerk (II) C-a3 Fugara 8’ U Gedackt 8’ Dolce 8’ Prinzipal 4’ Flöte 4’ Oktave 2’ Quinte 1 1∕3’ Sifflöte 1’ Acuta 5f 1’ U Schalmei 8’ Tremulant
Schwellwerk (III) C-a3 Gedackt 16’ Gedackt 8’ Salicional 8’ Voix céleste 8’ Prinzipal 4’ Flauto dolce 4’ Nasat 2 2∕3’ U Blockflöte 2’ 1∕ ’ Piccolo 2 Sesquialtera 2f Streichmixtur 5f 2’ Oboe 8’ Vox humana 8’ Hölzern Gelächter Tremulant
Seitenwerk C-a3
Pedal C-f1 Pommer 16’ Subbass 16’ Gedacktbass 16’ Tr Quinte 10 2∕3’ Gedackt 8’ Tr Oktave 8’ Oktave 4’ Flauto dolce 4’ Tr Nachthorn 2’ Mixtur 6f 2 2∕3’ Posaune 16’ W Trompete 8’ W
Schwellpedal C-f1 Gedacktbass 16’ SW Bassflöte 8’ SW Oktavbass 8’ SW Nachthorn 4’ SW Glockenton 2’ SW Prinzipalbass 8’ Süd Prinzipal 8’ Süd Tr Oktave 4’ Süd Tr
(spielbar von allen Manualen; im Schwellkasten)
Holzflöte Traversa Jahnn-Flöte Kornett 2-5f Französ. Trompete Clairon
8’ 4’ 2’ *) 8’ 4’
*) 1924-1989 als Flachflöte 2’ in der Schnitger-Orgel
Süd SW Tr U W
= = = = =
nur für Südschiff Register schwellbar im Seitenwerk Transmission Umbau aus Bestand Wolter 2008
Koppeln: SW/HW, OW/HW, SW/OW, HW/Ped, OW/Ped, SW/Ped Seitenwerk ohne eigenes Manual; Suboktavkoppel Seitenwerk an alle Manuale Spiel- und Registertraktur elektrisch, Taschenladen 4 freie Kombinationen, 2 Pedalkombinationen, Setzeranlage Register-Crescendo (Walze), frei einstellbar Tonhöhe a1 = 442 Hz; minimal ungleichstufige Stimmung
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Hamburg (St.-Michaelis-Kirche) ____________________________________________________________ Die Kirche Die Michaeliskirche ist durch ihren 132 m hochaufragenden Turm, den „Michel“, der das Stadtbild weithin beherrscht, zum Wahrzeichen Hamburgs geworden. Für die Anfang des 17. Jahrhunderts gegründete westliche Neustadt wurde diese fünfte Hamburger Hauptkirche 1751‐62 anstelle einer kleineren, durch Blitzschlag zerstörten Vorgängerkirche durch die Architekten E. G. Sonnin und L. Prey errichtet. Nach Preys Tod erbaute Sonnin 1777‐86 den Turm, dessen Formensprache bereits klar zum Klassizismus tendiert. Nach einem Groß‐ brand (1906) war eine weitgehende Rekon‐ struktion notwendig, die der Architekt Faul‐ haber 1907‐12 in konsequenter Einheitlich‐ keit durchführte. Der Backsteinbau mit Werk‐ steingliederung ist von einem kupfergedeck‐ ten Mansarddach überdeckt. Das Bild des kreuzförmigen Baukörpers dokumentiert die Architektur des Überganges vom Rokoko zum Klassizismus. Der Innenraum ist von großartiger Wirkung. Das Grundrissbild zeigt eine beherrschende Vierung mit vier knappen Abseiten, wobei dem Chor ein gewisses Übergewicht gegenüber den Querschiffsflügeln eingeräumt wird. Diese Tendenz zu einer Betonung der Längsrichtung des Raumes wird unterstützt durch die höchst kunstvolle Form des Gewölbes, das bei einer zur Raummitte ansteigenden Höhe in Richtung des „Längsschiffes“ durchläuft, während die Hamburg: St. Michaelis Gewölbe über den Seitenschiffsflügeln durch weit gespannte Arkadenbögen gegen die Vierung hin abgegrenzt werden. Die so erzeugte Richtungstendenz des Raumes wird noch unterstützt durch ein sie zusammenfassendes Scheingesims. Die auf diese Weise in der oberen Raumzone gewonnene Wirkung eines gerichteten Raumes wird durch zwei Elemente wiederum aufgehoben und überspielt: Einmal durch eine gleichsam dreischiffige Anlage der Chorpartie, die wie eine zweite Raumschicht hinter den Priecheneinbauten sichtbar wird, zum anderen durch die konse‐ quent auf drei Seiten um die Vierung schwingenden, kleeblattförmigen Emporen, durch die die Forderung nach einer weiträumigen Predigtkirche verwirklicht werden konnte: Die Michaeliskirche fasst etwa 4.000 Menschen. Durch diese Zusammenfassung des Raumes in der Vierung wird wiederum eine starke Zentrierung erreicht. Es ist eine Musterleistung
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der Architektur, wie hier durch die Überlagerung zweier Gestaltungsten‐ denzen die Dialektik des zentralen Kirchenraumes erlebbar gemacht wird: Einerseits der Wunsch, eine hörende und feiern‐ de Gemeinde um ein litur‐ gisches Zentrum zu ver‐ sammeln, dem anderer‐ seits die Notwendigkeit entgegensteht, dieser Ge‐ meinde ein vermittelndes Gegenüber zu geben. Die Hamburg: St. Michaelis St.‐Michaelis‐Kirche kann wohl als bedeutendstes Beispiel der evangelischen Predigtkirche angesehen werden. Die Ausstattung ist nahezu (bis auf den Taufstein und wenige andere Stücke) vollständig das Ergebnis des neubarocken Wiederaufbaus um 1910, teilweise als authentische Repliken, teilweise in einer sehr einfühlsamen, freien Gestaltung entstanden. Im Gruftkeller der Kirche hat neben dem Erbauer Ernst Georg Sonnin auch Carl Philipp Emanuel Bach seine letzte Ruhestätte gefunden. Carl Philipp Emanuel Bach wirkte ebenso wie Georg Philipp Telemann nach dessen Tod (1767) als Musikdirektor der fünf Hamburger Hauptkirchen. Rudolf Haupt:
Geschichte der Orgeln in St. Michaelis Die Hauptorgel Die 1661 eingeweihte alte Michaeliskirche besaß eine Orgel mit zwei Manualen und einem Pedal, die die Gemeinde von dem Kantor Thomas Selle (1599‐1663) gekauft hatte. Schon 1670 wurde dieses Werk durch einen Neubau des Orgelbauers Joachim Richborn ersetzt. Dieses Instrument hatte 20 Register auf HW, RP und Pedal. Nachdem 1678 die Michaeliskirche fünfte Hauptkirche in Hamburg geworden war, wurde der Wunsch nach einer größeren Orgel laut. Diese gab man 1712 bei Arp Schnitger in Auftrag. Drei Jahre später, 1715, wurde diese Orgel (52 Register, davon 14 im HW, 13 im RP, 11 im BW und 14 im Pedal) eingeweiht. Etwa 1750 verhandelte die Gemeinde mit dem Berliner Orgelbauer Joachim Wagner (1690‐1749) wegen eines Umbaus dieser Schnitger‐Orgel, der allerdings nicht zustande kam, weil am 10. März 1750 Kirche und Orgel „durch einen Wetter‐ strahl“ vernichtet wurden. Nach dem Wiederaufbau der Kirche (1751‐62) entschied man sich, den bekannten Orgelbauer Gottfried Silbermann (1683‐1753) für einen Orgelneubau zu verpflichten, der jedoch 1753 verstarb. Deshalb beauftragte man Johann Gottfried
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Hildebrandt (1724‐1775) aus Dresden mit dieser Aufgabe, der den Orgelbau bei seinem Vater Zacharias Hildebrandt (1688‐1757), Schüler von Gottfried Silbermann, erlernt hatte. J. G. Hildebrandt errichtete die Orgel in St. Michaelis 1762‐1770. Die Disposition dieser Orgel gibt Jacob Adlung in seinem Werk „Musica mechanica Orga‐ noedi“ (1768), Teil 1, S. 241/42, wieder: HW 17 Reg., OW 14 Reg., BW 15 Reg., Pedal 14 Reg.; Manualumfang C‐f3, Pedalumfang C‐d1, sa. 60 Register. Die 8‘‐Prinzipale aller Manuale sowie Trompete 8' im OW waren von f° (bzw. g°, bzw. a°) ab doppelt besetzt. Die Pedalgrundlage bestand aus Prinzipal 32', Subbass 32', Posaune 32', Prinzipal 16', Offener Subbass 16', Posaune 16' und Fagott 16'. Hinzu kamen eine Schwebung (Unda maris 8' im OW) sowie die Koppel HW/Ped, Tremulant HW, Cimbelstern. In den Anmerkungen zu dieser Disposition heißt es u. a.: „Unter andern Besonderheiten dieses vortreflichen Werks, ist mit Ruhm anzumerken, dass der Hr. Verfertiger, immer in jedes Clavier, Floeten von einerley Art gesetzet hat. Z. Ex. ins Hauptwerk: Gemshorn 8‐ und 4‐Fuss; ins Oberwerk: Spitzfloete 8‐ und 4‐Fuss; ins Brustwerk: Rohrfloete 16‐, 8‐ und 4‐ Fuss..." Die größte Pfeife im Prospekt (C des Prinzipal 32'), mit einer Länge von 10,28 m und einem Umfang von 0,55 m, war oben mit dem Bildnis von Johann Mattheson (der 44.000 M. für die Orgel gab) geziert und trug am Fuße die Gravierung: „Gew. vun diese Pipe 910 Pfund“. Diese auch von der Ausstattung her luxuriöse Orgel erregte weithin Aufsehen, und Ernst Ludwig Gerber (1746‐1819) schrieb in seinem „Historisch‐biographischen Lexikon der Ton‐ künstler“ (1791/92), Spalte 672: „HILDEBRAND, Johann Gottfried – so heißt der Sohn von Zacharias Hildebrand, der große Baumeister der Orgel in der großen Michaeliskirche zu Hamburg, des Triumphs der neueren Orgelbaukunst. Keine Empfindung kommt der gleich, welche die Ertönung dieses Werkes erregt, und die Bewunderung steigt aufs höchste, wenn man dessen Bau von innen besieht...“ 1821 erhielt die Orgel ein Glockenspiel mit einem Tonumfang von f1‐c3. Anlässlich einer Überholung größeren Ausmaßes durch den Orgelbauer Johann Gottlieb Wolfsteller in den Jahren 1839‐42 wurden die Verdoppelungen der Prinzipale in allen Manualwerken und der Trompete 8' (OW) entfernt. Das HW bekam dafür eine Oboe 8' (f°‐f3), das OW eine Trompete 4' und ein Krummhorn 8', das BW eine Trompete 8' und Flachflöte 2' (verlor aber Tertia 1 3/5', Quinta 1 1/2', Sifflet 1'). Außerdem stellte Orgelbauer Wolfsteller die Register Prinzipal 8', Oktave 4', Cornett 5f und Trompete 8' in einen Schwellkasten. Im Pedal kam ein Violon 8' (aus Holz) dazu. 1832 wies die Hildebrandt‐Disposition zusätzlich die Koppeln OW/HW und BW/HW auf. 1876 erweiterte der Hamburger Orgelbauer Christian Heinrich Wolfsteller die Windzuleitungen; die Windladen erhielten insgesamt 13 Ausgleichsbälge; die Windladen von HW und BW wurden mit Doppelventilen versehen; das Pedal bekam längere Tasten, „zum bequemeren Spielen mit den Fussabsätzen“. In seinem Abschlussbericht über diese Reparatur schreibt der Jacobi‐Organist Heinrich Schmahl in seiner Eigenschaft als Revisor:
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„Und somit ist denn das in seinem Äußeren so imponirende Orgelwerk jetzt auch in seiner Tongewalt ... von mächtiger, ergreifender Wirkung geworden, weil jetzt diese sonst so schöne Orgel auch ‚eine gute Lunge‘ (wie J. S. Bach sich ausdrückte) erhalten hat.“ Am 3. Juli 1906 vernichtete ein Großfeuer Kirche und Orgel. Im Juni 1908 stellte der damalige Organist der Kreuzkirche Dresden, Alfred Sittard (1878‐1942), der dann 1912 in das Organistenamt in St. Michaelis berufen wurde, ein ausführliches Programm für einen Orgelneubau auf, das für die sieben sich um diesen Bau bewerbenden Orgelbauer bindend war. Den Auftrag erhielt im Oktober 1909 die Orgelbaufirma E. F. Walcker & Co. (Ludwigsburg/Württ.). Ausschlaggebend für diese Wahl waren u.a. auch die Erfolge Walckers auf dem Gebiet der elektro‐ pneumatischen Traktur, denn nur diese Trakturart kam bei den ungewöhnlichen Entfernungen von Taste zu Pfeife (Fernwerk 50‐60 m) in Frage. Der Prospekt der Orgel maß eine Höhe von 17,6 m und eine Breite von 16,3 m. Seine Pfeifenanordnung war bis auf die neu hinzugekommenen beiden Sei‐ tentürme die alte geblieben; Gesamtzahl der Prospektpfeifen: 177. Sämtliche 31 Wind‐ und Frontladen waren in fünf Stockwerken gruppiert. Der Winddruck betrug 90‐190 mm WS; die aufrechtstehende, vier Meter hohe Windlade für die Feldtrompeten im III. Manual und die Tuben 16' und 8' im Pedal hatten 190 mm Winddruck. Die insgesamt 163 klingenden Register verteilten sich fol‐ gendermaßen: Hamburg (St. Michaelis): Walcker-Orgel 1912 I. Manual (C‐c4): 25 Register II. Manual (C‐c4): 26 Register III. Manual (C‐c4): 24 Register (Schwellwerk) IV. Manual (C‐c4): 28 Register (Schwellwerk) V. Manual (C‐c4): 22 Register (Fernwerk) Pedal (C‐g1): 38 Register (davon standen im SW III: 4 Reg., im SW IV: 8 Reg.) Die 22 Register des Fernwerks (mit fünf eigenen Pedalregistern) waren oberhalb der Kirchen‐ decke in einen Betonkanal eingebaut. Ihr Klang wurde durch einen Schallkanal bis zu einer Öffnung im Scheitel der Kirchendecke geleitet. Der 4 qm große und 1.140 kg schwere Spieltisch enthielt 207 Registertasten und 4 x 207 = 828 Kombinationstasten rechts und links der Klaviaturen in je sechs geschweiften Staffeln und in einer weiteren Reihe über dem V. Manual angeordnet. Hinzu kamen eine Registerwalze, drei Schwelltritte für die Manualwerke III, IV und V. Die Wirkung der Crescendo‐Walze erstreckte sich nicht nur auf
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das ganze Werk, sondern konnte auch separat auf die Werke I/II, bzw. III/IV bzw. V beschränkt werden, immer mit dem dazugehörigen Pedal. Der Pedalumfang C‐g1 war seiner‐ zeit in Deutschland erstmalig verwirklicht worden. Bei der Aufstellung der Disposition waren folgende Grundsätze maßgebend: 1. Alle Registerbezeichnungen des Vorgängerwerkes von Hildebrandt werden in die neue Orgel übernommen. 2. Es ist eine Disposition mit möglichst deutschen Namen zu schaffen. 3. Jedes Teilwerk ist ein klanglich in sich geschlossenes Orgelwerk: vollständiger Prinzipalchor, Flöten‐, Streicher‐ und Zungenchor. 4. Alle bis dahin gebräuchlichen Fußtonlagen werden in ausgewogenem Verhältnis zueinander berücksichtigt. 5. Cymbel 3f (I), Spitzflöte (II), Mixtur 5f (III), Mixtur 6f (Ped) werden hinsichtlich Mensuren und Legierungen nach in Dresden und Freiburg/Sachsen stehenden Vorbildern von Gottfried Silbermann gebaut. 6. Die Register Prinzipal 8' und 4' werden doppelt besetzt. 7. An Hochdruck‐Registern werden disponiert: sechs Zungenstimmen, ein Prinzipal 8', eine Flöte, drei Streicher. 8. Im IV. und V. Manual werden alle 8'‐Register um eine Oktave über den Klaviaturumfang hinaus und alle 4'‐Register um eine Oktave unter den Klaviaturumfang hinunter ausgebaut (Super‐ und Suboktaven). 9. Die beiden Schwellwerke (III und IV) erhalten ein Übergewicht an Registern, damit sie dem Pfeifenbestand der beiden Manuale I und II klanglich gewachsen sind. 10. Die Registersumme des I. und des II. Manuals soll zu der Registersumme im III. und im IV. Manual im gleichen Verhältnis stehen. 11. Zwecks dynamischer Biegsamkeit des Klanges stehen das III. Manual (Plenum von vorherrschendem Zungencharakter, 3 horizontal liegende Hochdruckwerke, 4 Pedal‐ register) und das IV. Manual (Plenum von vorherrschendem Labialcharakter, 9 Pedal‐ register) in je einem Schweller, so dass von den auf der Orgelempore stehenden Registern der Orgel 65 (darunter 6 mit erhöhtem Winddruck) schwellbar sind. 12. Zur Bezeichnung der Teilwerke der Orgel argumentiert Alfred Sittard: „Für die alten Werke Haupt‐, Ober‐, Brustwerk und Positiv fehlt die innere Begründung, denn sie erklären sich durch den nach einem bestimmten Schema üblichen Aufbau alter Orgeln, der heute nicht mehr bindend ist. An der neuerdings eingebürgerten schlichten Nummerierung der Manuale ist ihres praktischen Vorteils wegen festgehalten worden. Die Charakterisierung der einzelnen Manuale ließe sich aber außerdem noch kenn‐ zeichnen, indem für das I. Manual: Prinzipalwerk, für das II. Manual: Hornwerk, für das III. Manual: Zungenschwellwerk, für das IV. Manual: Labialschwellwerk, für das V. Manual: Fernwerk gesetzt wird“.
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Diese 1912 eingeweihte Walcker‐Orgel zu St. Michaelis war seinerzeit die größte Orgel, die je in Deutschland gebaut wurde. Eine ähnliche Großtat vollbrachte Walcker drei Jahre zuvor mit dem Bau der Orgel in St. Reinoldi, Dortmund (V/113), die 1944 zerstört wurde. In seinen „Erinnerungen eines Orgelbauers“ (Bärenreiter‐Verlag, Kassel 1948) schreibt Oscar Walcker u. a.: „Mein Bild, in Öl gemalt, erhielt ... seinen Platz unterhalb der Orgel – eine Ehre, die selten einem Orgelbauer zuteil wird. Kaiser Wilhelm II. verlieh mir den preußi‐ schen Kronenorden. Vom Regierenden Bürgermeister Hamburgs erhielt ich eine silberne, vom Michaelis‐Kirchenvorstand eine goldene Ehrenmedaille ...“ (S. 93) Die Beschädigungen dieser Orgel infolge der Auswirkungen von Luftangriffen im II. Weltkrieg waren so stark, dass man sie aus Sicherheitsgründen nach dem Kriege abtragen musste. In den fünfziger Jahren entwarf KMD Friedrich Bihn, Organist an St. Michaelis, die Konzep‐ tion einer neuen Orgel. Er ging dabei von den Überlegungen aus, dass ein Wiederaufbau der Walcker‐Orgel nicht möglich sei wegen der dazu erforderlichen Riesensummen, „die nicht im Verhältnis zum Erfolg stehen würden“ und wegen der inzwischen eingetretenen Veränderungen im Orgelbau („Orgelbewegung“). KMD Bihn fand den Weg zu der neuen „Groß‐Orgel“' vorgezeichnet in der Tatsache, dass die Orgel „in erster Linie ein Instrument der klanglichen Kontraste ist und eine Klangfarbensteigerung eine Steigerung der Klang‐ stärke veranlasst“ und ging beim Entwurf der neuen Disposition von der klassischen Orgel des 16. und 17. Jahrhunderts aus, die er nach verschiedenen Richtungen hin organisch weiterentwickelte. Zur Disposition selbst schreibt KMD Bihn im Februar 1959 u.a.: „Die Besonderheit, die nach meiner Meinung der einzig vertretbare Weg zur Großorgel ist, liegt darin, dass zwei Hauptwerke verschiedener Form vorgesehen sind. Das eine enthält die Prinzipale und Lungen, um dem Werk gemeinsam mit dem Oberwerk die erforderliche Pracht und Würde zu geben. Das zweite Hauptwerk ist beweglicher gestaltet und soll auf seine Art und im Zusammenhang mit dem darunterliegenden Unterwerk (in der Art klassi‐ scher Rückpositive disponiert) eine ebenbürtige klangliche Balance zum ersten Hauptwerk bilden und farbliche Kontraste übernehmen können. Sowohl das Ober‐ wie auch das Unterwerk sind außerdem ganz eigenwillige und charak‐ teristische Klangeinheiten. Das fröhlichste und lebendigste Werk soll das ganz oben in der Orgel befindliche Kronenwerk werden. Das Pedal ist von weitestgehender Selbständigkeit geplant, damit Anleihen aus anderen Werken, die in jedem Fall eine gewisse Schwäche darstellen, völlig vermieden werden können. Ein voll ausgebauter Prinzipalchor von ungeahnter klanglicher Weite steht einem gleichen Chor in der Flötengruppe und einem über die ganze Skala reichenden Chor von kurz‐ und langbechrigen Zungenstimmen gegenüber. Überhaupt ist davon ausgegangen, dass ein Minimum an Technik einem Maximum an Klang entspricht. Nur dadurch kann das Wesen der Orgel und die Eleganz der Handhabung eines so großen Werkes gewährleistet sein ...“ Diese – jetzige – Orgel wurde von Oktober 1961 bis März 1962 als op. 2000 von der Orgel‐ baufirma G. F. Steinmeyer (Oettingen/Bayern) in der Kirche aufgestellt.
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Textergänzung 2022 Rudolf Haupt, der Verfasser des obigen Textes zur Vorgeschichte der heutigen Hauptorgel in St. Michaelis, war Organist an der Gloger‐Orgel (1721) der Kirche St. Sixti in Northeim. Er hatte seinen ersten Orgelunterricht in Hamburg vom Michaelis‐Organisten Alfred Sittard (1878‐1942) erhalten, einem der bedeutendsten Organisten in Deutschland. Haupt verfass‐ te zahlreiche Artikel in Fachzeitschriften und nahm bis zu seinem Tode in den 1980er Jahren an einigen unserer Orgelstudienfahrten teil. Er berichtete, dass der Verbleib der großen Walcker‐Orgel von 1912 in St. Michaelis bis heute ein Mysterium sei. Sie wurde zwar zu Beginn des Zweiten Weltkrieges ausgelagert, danach verlieren sich aber alle Spuren. Fest steht: Die schiere Not machte es verständlich, dass 1945 Orgelteile zweckentfremdet oder in andere Instrumente übernommen wurden.
Die Hauptorgel auf der Westempore Die Große Orgel, erbaut 1962 von der Werkstatt G. F. Steinmeyer aus Oettingen (Bayern), hat insgesamt 6.697 Pfeifen. Ihre 86 Register können sowohl vom Spieltisch im Unterbau des Hauptgehäuses als auch vom freistehenden Zentral‐ spieltisch auf der Nordempore ange‐ spielt werden. Zu den Besonder‐ heiten des Instruments zählen ein Zimbelstern und die 2015 einge‐ bauten Röhrenglocken. Ausgehend vom Orgeltyp der 1770 vollendeten Hildebrandt‐Orgel entwarf Stein‐ meyer eine Großorgel, die für ein stilistisch breit angelegtes Orgel‐ repertoire einsetzbar ist. Der Pros‐ pekt strebt wie bei den Vorgänger‐ orgeln zur zentralen Mittelachse hin, flankiert von gestuften und ge‐ schwungenen Seitenfeldern, die das Zentrum umhüllen und fügt sich so homogen in den Raum ein.
Hamburg (St. Michaelis): Hauptorgel
Das Instrument wurde im Rahmen einer Renovierung 2009‐2010 durch die Freiburger Werkstatt Späth technisch komplett überholt. Die Spieltraktur wurde weitgehend neu gebaut. Bauteile aus Aluminium und Kunststoff wurden durch seit Jahrhunderten bewährte Systeme, überwiegend in Hartholz, ersetzt, so dass die zum Teil extrem langen Wege leichter überwunden werden können.
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Nahezu unangetastet blieb die Disposition, der klangliche Aufbau dieser Orgel: Sie ist in sich logisch für eine Orgel im neobarocken Stil und bietet eine große, mittlerweile selten geworde‐ ne Auswahl an Prinzipalen, Mixturen, Flöten und Zungenregistern. Durch die stabilisierte Windversorgung und eine sorgfältige Nach‐ intonation blieb die klangliche Intention von 1962 komplett erhalten. Neu hinzugefügt wurde ein Subbass 16‘ im Pedal, den man in der Dispo‐ sition von 1962 wohl aus falsch verstandenem Purismus für entbehrlich hielt. 2015 wurde an der Rückwand der Orgel durch die Werkstatt Klais (Bonn) ein Röhrenglocken‐ spiel mit Klangstäben (von d0 bis d2) eingebaut, das vom Zentralspieltisch aus elektrisch gespielt werden kann.
Spielschrank der Hauptorgel
Positionen der Hauptorgel (Westempore, Mitte), der Konzert-Orgel (Nordempore, rechts) und der C.-P.-E.-Bach-Orgel (Südempore, links), im Vordergrund der Zentralspieltisch für Haupt- und Konzert-Orgel sowie Fernwerk (Dachboden)
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Hamburg (St. Michaelis): Große Orgel, Westempore Steinmeyer 1962, V/P/86 Hauptwerk (II) C-g3 Principal 16’ Oktave 8’ Quinte 5 1/3’ Oktave 4’ Quinte 2 2/3’ Oktave 2’ Cornett 5f ab f° 8’ Mixtur 6-8f 2’ Scharff 4f 2/3’ Trompete 16’ Trompete 8’ Trompete 4’
Positiv (I) C-g3 Quintadena 16’ Principal 8’ Spitzflöte 8’ Oktave 4’ Rohrflöte 4’ Nasat 2 2/3’ Oktave 2’ Flachflöte 2’ Mixtur 6-8f 1 1/3’ Cimbel 3f 1/6’ Fagott 16’ Trompete 8’ Vox humana 8’ Tremulant
Röhrenglocken d°-d2 (2015) Brustwerk (V) C-g3 Quintadena 8’ Gedackt 8’ Principal 4’ Blockflöte 4’ Oktave 2’ Quinte 1 1/3’ Sesquialtera 2f Scharff 5-7f 1’ Cimbel 2f 1/3’ Dulcian 16’ Bärpfeife 8’ Schalmey 4’ Tremulant Zimbelstern
Pedal C-g1 Principal Oktave Gemshorn Subbass Oktave Gedackt Oktave Koppelflöte Nachthorn Bauernflöte
*) 2010
32’ 16’ 16’ 16’ * 8’ 8’ 4’ 4’ 2’ 1’
Schwellwerk (III) C-g3 Bourdon 16’ Principal 8’ Violflöte 8’ Schwebung 8’ ab c° Oktave 4’ Flute travers 4’ Oktave 2’ Quinte 2 2/3’ Terz 1 3/5’ Septime 1 1/7’ Mixtur 4-6f 1 1/3’ Bombarde 16’ Trompete 8’ Hautbois 8’ Clairon 4’ Tremulant Hintersatz 5f 4’ Rauschpfeife 3f 2 2/3’ Mixtur 6-8f 2’ Posaune 32’ Posaune 16’ Dulcian 16’ Trompete 8’ Trechterregal 8’ Trompete 4’ Vox humana 4’ Singend Cornett 2’
Kronwerk (IV) C-g3 Hohlflöte 8’ Spitzgamba 8’ Principal 4’ Spitzflöte 4’ Nasat 2 2/3’ Oktave 2’ Gemshorn 2’ Terzian 2f 1 3/5’ Oktave 1’ Scharff 6f 1’ Regal 16’ Krummhorn 8’ Zinke 4’ Tremulant
Winddrücke: I: 63 mm WS II: 69 mm WS III: 80 mm WS IV: 65 mm WS V: 65 mm WS Ped: 80/90 mm WS
Computergesteuerte Setzeranlage
Mechanische Spieltraktur Elektropneumatische Registertraktur
Koppeln: I/II, III/II, IV/II*, V/II*, III/I*, IV/I*, V/I*, IV/III*, V/III*, V/IV* I/Ped, II/Ped*, III/Ped, IV/Ped*, V/Ped* *) 2010 neu hinzugekommen Super-/Suboktavkoppel III/III, durchkoppelnd (2010), nur vom Zentralspieltisch
Die große Steinmeyer-Orgel wird mit folgenden Werken vorgestellt:
Johann Sebastian Bach: ‐‐ Kommst du nun, Jesu, vom Himmel herunter BWV 650 1685‐1750 ‐‐ Ich ruf zu dir, Herr Jesu Christ BWV 639 ‐‐ Präludium und Fuge in Es‐Dur BWV 552 (mit den fünf Plenum‐Klängen der Orgel) An der Orgel: KMD Günter Jena (Organist an St. Michaelis)
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Die Konzert-Orgel auf der Nordempore Immer bestand im Michel das Problem, dass auf der Westempore kein Platz für ein größe‐ res Ensemble war, da diese Empore für höchstens 100 Personen Raum bot. Andererseits gehören festliche Musikaufführungen mit Chor und Orchester selbstverständlich zum Musikprogramm der Michaeliskirche. Hierfür nutzt man stets die geräumige Nordempore. Da die Entfernung und die ungünstige Sichtverbindung zur Großen Orgel kein exaktes gemeinsames Musizieren zulassen, behalf man sich bis ins 20. Jahrhundert mit einer beweglichen Orgel, die bei Bedarf auf der Musikempore auf‐ und wieder abgebaut wurde. Als die Michaelis‐ kirche nach dem Brand 1906 neu aufgebaut wurde, standen genügend Raum und Mittel zur Verfügung, ne‐ ben der großen neuen Orgel 1909 eine weitere zu bestellen. Diese Konzert‐ oder auch „Hülfs“‐Orgel war vorwiegend als Begleitinstrument für Chor und Marcussen-Konzert-Orgel von 1914 auf der Nordempore Orchester gedacht und wurde an der Nordwand vor dem großen Mittelfenster in einem weißen, barockisie‐ renden Gehäuse platziert. Alfred Sittard, der erste Organist an der neuen, monumentalen Walcker‐Orgel von 1912, schrieb den heute spaßig zu lesenden Satz über den Klang seiner „Hülfsorgel“: „Die Intonation erfolgte unter Berücksichtigung der besonderen Aufgaben der Orgel, großen Chor‐ und Orchestermassen standzuhalten“. Diese martialische Formulierung erklärt nicht nur die kräftige Tongebung, sondern das ganze Konzept: Mit 40 Registern und zwei Transmissionen (d. h. das selbe Register wird im Manual und Pedal genutzt), verteilt auf zwei Manuale und Pedal ist es ein durchaus stattliches Werk, das in mancher Kirche mühelos als Hauptorgel fungieren könnte. Zudem sind die Stimmen so gewählt und mensuriert, dass sie einen tragenden Klang erzeugen, jedoch auch – wie die Instrumente eines Orchesters – stark differenziert sind. Die damals in Hamburg und Norddeutschland viel gefragte Werkstatt Marcussen & Sohn aus dem dänischen Apenrade vollendete hier 1914 ein klanglich wie technisch hochwerti‐ ges Instrument, das zahlreiche besonders charakteristische Flöten‐ und Streicherstimmen enthält. Die traditionsreiche Firma verstand es zudem, das grundtönige Klangideal der Romantik mit erstaunlicher Brillanz zu verbinden.
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Bekannt war (und ist) die solide Bauweise der Marcussen‐Orgeln, auch und gerade bei der hier angewandten Steuerung mittels Pneumatik (Taschenladen): Alle Funktionen von Tasten und Registern werden hier durch ein ausgeklügeltes System übermittelt, das nur mit Luft‐ druck arbeitet. Es gleicht einer Servolenkung und bewirkt einen leichten Anschlag. Neben einem Elektrogebläse im Gruftgewölbe wurde vorsichtshalber eine herkömmliche Schöpf‐ anlage für den Orgelwind installiert. Der Spieltisch wurde etwa einen Meter vor dem Orgel‐ gehäuse aufgestellt – merkwürdigerweise mit Blickrichtung zur Orgel, nicht zum Dirigenten. Weil die große Walcker‐Orgel von 1912 durch Kriegseinwirkungen während des Zweiten Weltkrieges völlig unbenutzbar geworden war, stand nach der Beseitigung der Kriegs‐ schäden und der Wiederindienstnahme des Kirchenraumes nur die Marcussen‐Orgel zur Verfügung. Der damalige Organist, KMD Friedrich Brinkmann, bemühte sich mit Erfolg darum, dieses Instrument für die Aufgaben, die es als nun einzige Hauptorgel des großen Kirchenraumes zu erfüllen hatte, umbauen und erweitern zu lassen . Unter dem Datum des 14.12.1950 ist sein Dispositionsent‐ wurf überliefert, der von der Werkstatt Walcker (Ludwigsburg) 1951/1952 ausge‐ führt wurde. Die ursprüngliche Marcussen‐ Disposition mit 40 Registern und zwei Transmissionen auf zwei Manualen und Pedal wurde um fünf Register erweitert und auf drei Manuale und Pedal verteilt. Die Windlade des dritten Manuals stellte der Orgelbauer auf Stützen über den Diskantpfeifen der Hauptwerkslade auf, da das Erweiterungsproblem in dem relativ engen Gehäuseinneren anders nicht zu lösen war. Register romantischen Charak‐ ters tauschte Brinkmann in seinem Ent‐ Erhaltener Walcker-Spieltisch von 1952 wurf gegen andere aus, da sie den Vor‐ stellungen jener „orgelbewegten“ Zeit wenig entsprachen. Der 1952 installierte dreimanu‐ alige Spieltisch musste 1980 durch einen fahrbaren neuen Spieltisch der Werkstatt Stein‐ meyer (Oettingen) ersetzt werden. Die Traktur wurde auf elektropneumatisch umgestellt. Den ausrangierten Walcker‐Spieltisch von 1952 konnte man bewahren. Er stand jahrelang im Gasthaus „Zum Bäcker“ in der Wohldorfer Mühle im Norden Hamburgs. Seit 1998 steht er im ehemaligen Dorfschulhaus, dem Ausflugslokal „Alte Rader Schule" an der Hamburger Stadtgrenze bei Tangstedt und entging so einem Brand in Wohldorf am 23. April 2010. Durch den Umbau und die stilistisch ungeschickten Erweiterungen in den 1950er Jahren waren technische Bauteile und das Pfeifenwerk entscheidend verändert und in der Orgel verstellt worden. Im Zuge der Sanierungsmaßnahmen 2009/2010 durch die Werkstatt Johannes Klais (Bonn) mussten wie bei einem Puzzle die ursprünglichen Positionen der mehr als 2.000 Pfeifen ermittelt werden. Ziel war die Restaurierung bzw. Rekonstruktion der Marcussen‐Orgel von 1914 in klanglicher und technischer Hinsicht. Völlig neu musste
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auch der pneumatische zweimanualige Spieltisch erbaut werden. Das 1952 nach‐ träglich hinzugefügte Manualwerk „Posi‐ tiv“ wurde entfernt. So konnte man das hochromantische Klangbild dieser Orgel, mit seinen orchestralen Farben, dem großen Fundus an differenzierten Flöten‐ und Streicherstimmen, weitgehend wie‐ dergewinnen. Nicht mehr vorhanden waren einige Register der Originaldisposition, die sich allerdings anhand der Auswertung der detaillierten Analyse von Vergleichs‐ Rekonstruierter neuer Spieltisch der Konzert-Orgel instrumenten rekonstruieren ließen. So konnte ein wichtiges Stück Hamburger Orgelgeschichte nach Abschluss der Restaurie‐ rungsmaßnahme zu neuem Leben erweckt werden. Hamburg (St. Michaelis): Konzert-Orgel auf der Nordempore Marcussen 1914, Klais 2010, II/P/42 Hauptwerk (I) C–c4 Prinzipal 16’ * Bordun 16’ Prinzipal 8’ Doppelflöte 8’ Rohrflöte 8’ Gamba 8’ Gemshorn 8’ Dulcian 8’ Oktave 4’ Offenflöte 4’ Quintatön 4’ Quinte 2 2/3’ Oktave 2’ Mixtur 2-4f Trompete 8’ *)
Schwellwerk (II) C-c4, Lade bis c5 Lieblich Gedackt 16’ Prinzipal 8’ Konzertflöte 8’ Gedackt 8’ Quintatön 8’ Salicional 8’ Aeoline 8’ Vox coelestis 8’ ab c0 Oktave 4’ Gemshorn 4’ Querflöte 4’ Oktavflöte 2’ bis c4 Terz 1 3/5’ bis c4 Cornett 4-6f bis c4 Rauschquinte 2 2/3’+2’bis c4 Oboe 8’
Transmission aus Ped-Principal 16’ und SW-Principal 8’
Pedal C-f1 Prinzipalbass 16’ Geigenbass 16’ Subbass 16’ Gedacktbass 16’ ** Quinte 10 2/3’ Oktave 8 Gedackt 8’ Quinte 5 1/3’ Oktave 4’ Posaune 16’ Trompete 8’
**) Transmission aus SW-Liebl. Gedackt 16’
Koppeln am Konzert-Orgel-Spieltisch: II/I, II/I Super, II/I Sub, II Super, II Sub, I/Ped, II/Ped Koppeln am Zentralspieltisch: HW/I, HW/II, HW/III, HW/IV, SW/I, SW/II, SW/III, SW/IV, HW/Ped, SW/ Ped Subkoppel SW/HW durchkoppelnd, Superkoppel SW/HW ausgebaut bis c5, durchkoppelnd Winddruck 90 mm WS (früher 108 mm WS)
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Die Orgeln in St. Michaelis Hamburg seit 2010 Bis zur Gesamtrestaurierung der Michaeliskirche 2007‐09 verfügte der Hauptkirchenraum über drei Orgelwerke: die Steinmeyer‐Hauptorgel aus dem Jahre 1962 auf der West‐ empore, die Marcussen‐Konzert‐Orgel von 1914 auf der Nordempore, sowie die Grollmann‐ Orgel im Altarraum. Diese kleine Chororgel stand bis zum Beginn der Kirchenrenovierung 2007 im Türdurchgang zwischen Sakristei und Chor‐ raum und wurde 1955 von Orgelbaumeister Franz Grollmann (Hamburg) erbaut. Sie hatte einen frei‐ stehenden Spieltisch und besaß vier Register mit angehängtem Pedal: Gedeckt 8'/Prinzipal 4'/Gemshorn 2'/Mixtur 4f. Da im Rahmen der Renovierung die ehemalige Tür wiederhergestellt werden sollte, wurde die Grollmann‐Orgel abgebaut und verkauft. Grollmann-Chororgel 1955-2007
Zu den Restaurierungs‐ und Neubaumaßnahmen im Anschluss und im Zusammenhang mit der Restaurierung des Kirchenraumes durch die beiden Werkstätten Späth und Klais in den Jahren 2008‐2010 zählten: Restaurierung der großen Steinmeyer‐Hauptorgel Restaurierung der Marcussen‐Konzert‐Orgel Neubau des Fernwerks auf dem Dachboden der Kirche Neubau der Carl Philipp Emanuel Bach‐Orgel Einbau der „neuen“ Krypta‐Orgel
Das Fernwerk auf dem Dachboden Die große Walcker‐Orgel von 1912 besaß erstmals auf dem Dachboden ein Fernwerk, dessen Schallabstrahlung in den Raum durch eine Öffnung in der Mitte der Kirchendecke erfolgte. Verbunden war die Schallaustrittsöffnung mit dem Fernwerk durch einen lan‐ gen, 3½ m breiten Schallkanal, dem ausgezeichnete akustische Eigenschaften nachgesagt wurden. Echowerke in großen Kirchenräumen haben eine lange Tradition und wurden in der Zeit um 1900 öfters gebaut. Walcker baute bereits 1904 in der Esslinger Stadtkirche ein Fernwerk auf elektro‐pneumatischen Kegelladen. 1911 wurde es versetzt und mit einem 30 m langen Schallkanal aus Gipskarton mit doppelten Schwelljalousien versehen. In dieser Form war es der Hamburger Anlage von 1912 sehr ähnlich. Auch die Wiesbadener Walcker‐Orgel der Marktkirche besaß von 1929 bis 1938 ein Fernwerk im Turmraum hinter der Orgel. Hier in der Hamburger Michaeliskirche griff man bei der Ergänzung der Orgelanlage 2008‐ 2010 durch die Werkstätten Klais und Freiburger Orgelbau auf die Idee eines Fernwerks zurück, zwar in Anlehnung an das Walcker'sche Werk von 1912, ohne jedoch eine direkte Kopie des damaligen Echowerks anzustreben. lm Ergebnis ist es nicht nur das Pianissimo‐
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Werk der Orgelanlage, sondern vor allem das klangliche Bindeglied zwischen der Großen Orgel und der Konzert‐Orgel. Die technisch wichtigste Veränderung lag darin, den Schallkanal zu verkürzen: Früher reichte er über den Hauptraum hinweg bis über das Chorgewölbe und war dann wiederum bis ins Zentrum der großen Kuppel zurückgekröpft. Damit sollte der Klang möglichst indirekt gehalten werden. Nun wurde der Schallkanal nur in einer Richtung bis in die Kuppel geführt, um mehr Klangstärke und vor allem eine größere Frequenzbreite in den Kirchenraum gelangen zu lassen. Damit wirkt das Fernwerk als vollwertiges zusätzliches Schwellwerk und kann zu beiden Orgeln ergänzend hinzugezogen werden.
Fernwerk auf dem Dachboden
Schall-Loch des Fernwerks in der Deckenmitte
Eine weitere Besonderheit im Michaelis‐Fernwerk sind die Hochdruck‐Register. Sie stehen mit 270 mm Wassersäule auf gut dreimal so hohem Winddruck als die übrigen Stimmen. Damit soll nicht nur zusätzliche Intensität erreicht werden, sondern ein Zugewinn an Klangfarben. Höherer Winddruck bewirkt in den Orgelpfeifen ein anderes Klangspektrum, das – zusammen mit der indirekten Klangabstrahlung – eine Gruppe neuer Farben in den Gesamtklang bringt. Neben charakteristischen Stimmen für romantische Musik wie Tibia oder Gambe sind an besonderen Pfeifenbauformen die Tuba und das Horn zu nennen. Eine Rarität ist die Regenmaschine: In einer rotierenden Trommel bewegen sich Kiesel‐ steine, die das Geräusch von Niederschlägen simulieren. Dieses von der Werkstatt Klais gespendete Effektregister ist z. B. einsetzbar für die Darstellung von programmatischen „Gewitter“‐Kompositionen, die vor allem im 19. Jahrhundert in Frankreich und in der Schweiz beliebt waren. Das Fernwerk ist ausschließlich vom Zentralspieltisch aus spielbar.
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Hamburg (St. Michaelis): Fernwerk Klais / Freiburger Orgelbau 2010, II/P/17 (14) Fernwerk C-c5 Windlade mit Normaldruck 130 mm WS
Windlade Hochdruck (HD) 270 mm WS
Pedal C-g1 Windlade 160 mm WS
Bordun 16’ Prinzipal HD 8’ Violon 16’ Prinzipal 8’ Gamba HD 8’ Bordun 16’ Transm. Tibia 8’ Tuba HD 16’ Ext. aus 8’ Violon 8’ Ext. aus Violon 16’ Salicional 8’ Tuba HD 8’ Echo Gamba 8’ Koppeln: Schwebung 8’ ab c0 Fugara 4’ FW/I, FW/II, FW/III, FW/IV, FW/V Gemshorn 4’ Subkoppel FW, Superkoppel FW ausgebaut FW-HD/I, FW-HD/II, FW-HD/III, FW-HD/IV, FW-HD/V Harmonia aetheria 4f 2 2/3’ bis c4 Horn 8’ Subkoppel FW-HD, Superkoppel FW-HD ausgebaut Regen FW/Ped, FW-HD/Ped
Die Carl-Philipp-Emanuel-Bach-Orgel auf der Südempore Auch das kleine Instrument auf der obersten Galerie der Südempore ist ein ergänzender Bestandteil des Ensembles der Orgeln im Michel, Pendant und Kontrast zur gegenüber‐ liegenden Konzert‐Orgel gleichermaßen. Die Carl‐Philipp‐Emanuel‐Bach‐Orgel wurde 2010 von der Werkstatt Freiburger Orgelbau Hartwig und Tilmann Späth gebaut. Gegenüber der grundtönigen und voluminös klingenden Konzert‐Orgel ist der Klangaufbau dieses neuen Instruments schlank und kammer‐ musikalisch. Es ist nicht mit den übrigen Orgeln verbunden und steht in einer für die Musik vor 1750 geeigneten Temperierung. Das Klang‐ bild folgt bewusst keiner speziellen Stilrich‐ tung. Vielmehr wurde versucht, ein für die ältere Orgelmusik verschiedener Regionen geeignetes Konzept zu finden. Neben einem milden Prinzipalchor, der deutlich an spanische Flautados erinnert und bis zur Quinte 1 1/3' als Klangkrone reicht, stehen differenzierte Flöten zur Verfügung. Die Quinte des Ober‐ werks kann solistisch und im kleinen Plenum eingesetzt werden. Eine besondere Note erhält das Werk durch das Zungenregister Dulcian 8', das in vielen (norddeutschen) Orgeln des 15. bis 17. Jahrhunderts vorkommt. Carl-Philipp-Emanuel-Orgel auf der Südempore
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Auch in der Technik wurde auf klassische Bauweise geachtet, um den Interpreten eine möglichst lebendige und reich ornamentierte Spielweise zu ermöglichen, wie sie die Tastenmusik aus Renaissance und Früh‐ barock verlangt. Die Windversorgung wurde mit unter‐ schiedlichen Bälgen für Manuale bzw. Pedal so einge‐ richtet, dass sie sich ohne Stöße dem jeweiligen Spiel und der gewählten Registrierung anpasst – wie ein von lebendigem Atem erfülltes Blasinstrument eben. Somit ist dieses Instrument für die reiche Tradition früher „Clavier‐Musik“ und für das Zusammenspiel mit jenen Klangkörpern bestens geeignet, die sich an historischer Aufführungspraxis orientieren. Spieltisch der C.P.E.Bach-Orgel
Zu den beliebten Galanterie‐Registern zählt auch die Nachtigall: In einen mit Flüssigkeit gefüllten Behälter mündende Pfeifen erzeugen – ähnlich der italieni‐ schen Wasserpfeife – beim Anblasen ein dem Vogel‐ ruf ähnliches Geräusch. Wie ihr Vorbild in der Natur versteckt sich auch die Orgel‐Nachtigall vor den Blicken der Betrachter. Gewidmet ist diese Orgel Carl Philipp Emanuel Bach, dem auch als „Hamburger Bach“ bezeichneten Sohn Johann Sebastian Bachs, der 1768 als Nachfolger seines Patenonkels Georg Philipp Telemann als Kirchenmusikdirektor in Hamburg tätig war. Grabplatte Carl Philipp Emanuel Bachs in der Krypta
Hamburg (St. Michaelis): Carl Philipp Emanuel Bach-Orgel Freiburger Orgelbau 2010, II/P/13 Hauptwerk (I) C-g3 Principal 8′ Holzflöte 8′ Octave 4′ Traversflöte 4′ Octave 2′ Quinte 1 1∕3′
Oberwerk (II) C-g3 Gedackt 8′ Rohrflöte 4′ Nazard 2 2∕3′ Flöte 2′ Dulcian 8′ Nachtigall
100
Pedal C-f1 Subbass Offenbass
16′ 8′
Koppeln: II/I, I/Ped, II/Ped Winddruck: 65 mm WS Mechanische Traktur, Schleifladen
Die Felix-Mendelssohn-Bartholdy-Orgel in der Krypta Die große Krypta wurde 1762 mit dem zweiten Bau der Kirche angelegt. Der Verkauf von Grabstellen sollte den Wiederaufbau mitfinanzieren. Von 1762 bis 1817 wurden Verstor‐ bene hier in schlichten Grabkammern bestattet, darunter die Musiker Johann Mattheson (†1764) und Carl Philipp Emanuel Bach (†1788) sowie der Architekt der Kirche, Ernst Georg Sonnin (†1794). Während des Zweiten Weltkriegs diente die Krypta als Luftschutzbunker. Anfang 2000 wurde die Krypta umgebaut und wird nun für Gottesdienste und Konzerte genutzt. Der von 44 charakteristischen Pfeilern getragene, etwa 300 m² große Raum unter dem Kirchenschiff ist komplett begehbar.
Krypta-Orgel
Krypta
Eine Orgel sollte hier nicht fehlen, obschon die geringe Höhe von ca. zwei Metern es kaum zu ermöglichen schien, hier ein veritables Instrument einzubauen. Im Jahre 2008 konnte hochwertiges Pfeifenwerk, Windladen und ein Spieltisch der Nürnberger Orgelbauwerk‐ statt Johannes Strebel aus dem Jahr 1917 erworben und 2010 durch die Werkstatt Freiburger Orgelbau restauriert werden. Eine durchdachte Konstruktion war nötig, um die sieben großen Register dieses „Felix‐Mendelssohn‐Bartholdy‐Orgel“ benannten Instru‐ ments in einer Kammer in der Stirnwand neben dem schlichten Altarbereich unterzu‐ bringen. Der Klang tritt durch eine schalldurchlässige Wand aus. Der Spieltisch ist frei im Raum beweglich und elektrisch mit den pneumatisch angesteuerten Laden verbunden. Durch die um eine Oktave nach oben ausgebauten Oktavkoppeln entfaltet das unschein‐ bare Werk neben seinen beachtlichen romantischen Klangfarben erstaunliche Brillanz und eignet sich damit als vielseitiges Begleit‐ und Soloinstrument. Hamburg (St. Michaelis): Krypta-Orgel „Felix Mendelssohn Bartholdy“ Strebel 1917, II/P/7 I. Manual C-g3 Prinzipal Viola di Gamba Hohlflöte Oktave
8’ 8’ 8’ 4’
II. Manual C-g3 Lieblich Gedeckt 8’ Salicional 8’
Pedal C-d1 Subbass 16’
Koppeln: II/I, I/Ped, II/Ped, Sub II/I, Super I (ausgebaut bis g4), Super II (ausgebaut bis g4) Elektropneumatische Traktur, Taschenladen
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Die Truhenorgel Seit Februar 2017 besitzt St. Michaelis eine neue Truhenorgel von der niederländischen Orgelbauwerkstatt Henk Klop (NL‐Garderen). Alle vier Register sind in Bass/Diskant geteilt. Das Instrument im Ahorngehäuse wird für kleine Solowerke sowie als Continuoinstrument bei Kantaten und Oratorien genutzt. Die kompakte Bauweise ermöglicht es, die Truhenorgel an verschiedene Orte innerhalb der Kirche zu transportieren. Manual C-g3 Gedackt 8' Prinzipal 4' * Rohrflöte 4' Flöte 2' * C-D mit Rohrfl. 4‘
Holzpfeifen (Zedernholz und Birne) Mensuren nach Compenius Winddruck 50 mm WS Truhenorgel
Der Zentralspieltisch Vom Zentralspieltisch (2009) können Große Orgel, Konzert‐Orgel und das Fernwerk ge‐ spielt werden. Der Zentralspieltisch verfügt über fünf Manuale, 145 Register und zahlreiche Sonderfunktionen. Eingebaut ist auch eine Computeranlage für die Speicherung von Registrierungen. Beweglich platziert auf der Nordempore bietet er die optimale Position, um die Balance aller Komponenten des neuen Ensembles zu kontrollieren und den meisten Hörern den Blick auf den Organisten zu ermög‐ lichen. Da der Zentralspieltisch elektrisch bzw. elektronisch arbeitet, ist es möglich, sämtliche neun Manual‐ und drei Pedalwerke nahezu belie‐ big den einzelnen Klaviaturen zuzuweisen. Dies eröffnet ungeahnte Kombinationen, wie sie nur an sehr wenigen Orgelanlagen gegeben sind. Je nach stilistischer Ausrichtung eines Musikwerks kann der Organist das Gesamtensemble – vergleichbar den Instrumentengruppen eines Orchesters – jeweils optimal positionieren sowie dynamisch und in den Klangfarben ausbalancieren. Die Intonation aller drei Teilorgeln ist dabei so sorgsam abge‐ stimmt, dass im Kirchenraum nicht immer erkenn‐ bar ist, welches Register welcher Orgel gerade an‐ gespielt wird. Garantiert ist jedoch stets ein Zentralspieltisch überwältigendes Raumerlebnis.
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St. Michaelis (Hamburg): Position der Orgeln im Raum
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Fachworterklärungen ____________________________________________________________
Abstrakte:
Dünnes Holzband (oder Draht), das die Bewegung der Taste auf das Spielventil überträgt
Aliquote:
Register, die Obertöne verstärken und damit die Klangfarbe anderer Register verändern können
Aufschnitt:
Höhe des Labiums; durch seine Mensur wird die Klangfarbe beeinflusst
Balg:
In ihm wird die Luft gespeichert, welche die Register erklingen lässt
Brustwerk:
Orgel‐Teilwerk, dessen Windlade unmittelbar über dem Spielschrank bzw. unter dem Hauptwerk (in der „Brust“ der Orgel) steht; sein Registerbestand basiert zumeist auf dem 2‘ der Prinzipalfamilie
Cantus firmus: (c. f.) „feststehende Stimme“ in einem mehrstimmigen Satz; meist handelt es sich dabei um einen Choral, aber auch frei erfundene Themen können mit c. f. bezeichnet werden Chromatik:
(griech. chroma, Farbe) entsteht, wenn die sieben Grundtöne der Tonleiter durch Versetzungszeichen verändert, alterniert werden; die chromatische Tonleiter enthält alle zwölf Halbtonstufen; Ggs.: Diatonik
Diatonik:
Fortschreitungen in Ganz‐ oder Halbtönen, wie sie unserem Tonleiter‐ system entsprechen; diatonische Fortschreitungen erfolgen in Sekund‐ schritten, chromatische verändern einen Ton, bewegen sich also inner‐ halb des Intervalls einer Prim
Disposition:
Zusammensetzung (bzw. Übersicht) der einzelnen Register einer Orgel
Engchor:
Prinzipale, Mixturen etc.; Hinweis auf die Weite der Pfeifenmensuren (Ggs.: Weitchor)
Fußbezeichnung: (z. B. 8') gibt die Tonhöhe eines Registers an und ist von der Länge der tiefsten Pfeife dieses Registers abgeleitet. Die 8‘‐Lage ist die „Normal‐ lage“, d. h. die Töne klingen wie notiert (wie z.B. auf dem Klavier); je kleiner die Fußangabe, desto höher klingt das jeweilige Register Hauptwerk:
Intonation:
das eigentliche „Große Werk“ der alten Orgel; die klangliche stärkste räumliche Vereinigung von Registern (meist Prinzipale); meist im Zentrum der Orgel (bzw. ihres Prospektes) platziert; das klangliche „Rückgrat“ der Orgel Abschließende Regulierung der Pfeifentöne nach der Aufstellung einer Orgel, bei der die gewünschte Klangfarbe der einzelnen Register im Einzel‐ und Zusammenklang erreicht wird
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Kammerton:
Normalton; das Tonsystem regelt die Beziehungen der Töne unterein‐ ander nur relativ. Es sagt nicht, wie viele Schwingungen ein Ton haben soll, also muss ein messbarer Ausgangston verbindlich fixiert werden. Das Abendland nahm dafür nach griech. Vorbild a1. 1939 wurde das Normal‐a1 auf 440 Hz festgesetzt. Früher gab es mehrere Stimmungen: den Chorton für Orgel und Bläser und den Kammerton z. B.
Koppel:
Verbindung zwischen einzelnen Teilwerken der Orgel, durch die man verschiedene Klanggruppen bzw. Teilwerke gleichzeitig auf einem Manual spielen kann
Labialpfeifen:
Lippenpfeifen; überwiegende Mehrzahl der Pfeifen einer Orgel: hier wird eine Luftsäule (in der Pfeife) durch Anblasen des Ober‐ Labiums zum Schwingen gebracht
Labium:
Öffnung an der Vorderseite der Pfeifen; hier wird der Ton bei den Labialpfeifen erzeugt
Manual:
Anordnung von Tasten (Klaviatur), durch deren Betätigung mit der Hand (lat. manus) die Pfeifen zum Erklingen gebracht werden
Mensur:
Abmessungen der Pfeifen und ihrer Einzelteile; die Pfeifenmensur bestimmt Klangfarbe und ‐stärke
Mixtur:
Register, in denen mehrere obertonverstärkende Pfeifenreihen (z. B. Oktaven, Quinten) vereinigt sind
Obertöne:
sind jedem natürlichen Ton zugeordnet; von ihrer Stärke, die durch die Pfeifenmensur bestimmt wird, ist die Klangfarbe abhängig
Oberwerk:
Orgelteilwerk; seit dem 18. Jhdt. oft anstelle eines Rückpositivs gebaut; meist über oder hinter dem Hauptwerk platziert; bei zweimanualigen Orgeln (HW/RP) auch oft die Bezeichnung des Hauptwerks; mit reduziertem Registerbestand kann es zum „Kronwerk“ oder „Kron‐ positiv“ (das die Orgel oben krönt) werden; das OW wird meist von der III. Klaviatur aus gespielt
Organ pleno:
„Volle Orgel“, Bezeichnung aus der Barockzeit, womit eine Plenum‐ Registrierung der Orgel gemeint ist (z. B. 8‘ 4‘ 2‘ und Mixtur)
Partita:
Suite, d. h. eine Reihe von Sätzen, die variationsartig über ein Thema komponiert ist, in der Orgelmusik meist über einen Choral
Pedalwerk:
Orgelteilwerk, das durch die Fußklaviatur gespielt wird; steht meist in zwei „Pedaltürmen“ auf beiden Seiten der Orgel
Portativ:
tragbare kleine Orgel
Positiv:
kleine, leicht transportable Orgel
105
Prinzipale:
Hauptregister der Orgel mit kräftigem, strahlenden Klang; auf dem Gerüst der Prinzipale basiert jedes Teilwerk
Prospekt:
das „Gesicht“, die Schauseite der Orgel, meist durch die vorn stehenden Prinzipalregister bestimmt; bei barocken bzw. neobarocken wird durch den Prospekt auch der Aufbau der einzelnen Teilwerke deutlich
Register:
die verschiedenen einzeln und gleichzeitig spielbaren Stimmen der Orgel; eine Pfeifenreihe von gleicher Bauart und gleichem Klang
Rückpositiv:
Orgelteilwerk im Rücken des Spielers, meist in der Emporenbrüstung; war in allen europäischen Orgellandschaften ein wesentlicher Bestand‐ teil der barocken „Werk“‐Orgel; der Klang dieses Positivs wirkt durch seine Stellung im Raum intensiver als der Ton der anderen Werke (besonders für Solostimmen, die dadurch plastisch hörbar „vor“ dem übrigen Klang stehen)
Schiebekoppel:
Durch Verschieben einer ganzen Manualklaviatur (z.B. HW um 2‐3 cm in Längsrichtung kommen kleine Klötzchen unter (oder über) den verlängerten Spieltasten aufeinander zu liegen, was ein Mitgehen der Tasten des angekoppelten Manuals bewirkt
Schleife:
langes schmales Holzbrettchen, durch dessen Verschiebung durch die Registerzüge die Register ein‐ und ausgeschaltet werden
Schleiflade:
(Tonkanzellenlade) alle verschiedenen Pfeifen, die zum gleichen Ton (und damit zur gleichen Taste) gehören, stehen auf einem Holzkasten, der Tonkanzelle, die parallel angeordnet sind, so dass die Pfeifen eines Registers in einer Reihe quer zur Lage der Tonkanzelle stehen. Durch Verschieben der Schleife (z. B. Ziehen des Registers) liegen dann Bohrungen in der Schleife über Bohrungen in den Platten der Tonkanzelle deckungsgleich übereinander: die Pfeife kann klingen. Unterhalb der Tonkanzellen liegt der Windkasten (Windlade), Kanzellen und Windkasten sind durch Spielventile verbunden, die durch Druck auf die Tasten über die Abstrakten geöffnet werden.
Setzerkombination: Bereits vor dem Spiel kann man beliebige Registerkombinationen einstellen („setzen“) und durch Knopfdruck während des Spiels abrufen Sperrventil:
Bestimmte Registergruppen (oder Werke) lassen sich damit an mecha‐ nischen Instrumenten gruppenweise abschalten (bei weiterhin gezoge‐ nen Registern)
Spielventil:
Durch Tastendruck zu öffnendes Ventil, das den Weg vom Windkasten zur Tonkanzelle versperrt; durch die Geschwindigkeit des Tastendrucks kann die Öffnungsgeschwindigkeit des Spielventils und damit die An‐ sprache der Pfeifen beeinflusst werden
106
Tonkanzelle:
Windkasten, auf dem alle verschiedenen Pfeifen stehen, die zum gleichen Ton gehören
Traktur:
Verbindung von der Taste zur Pfeife
Tremulant:
Vorrichtung, die den Luftstrom in Schwankungen versetzt und den Tönen einen kantablen, schwingenden Charakter verleiht
Weitchor:
Hinweis auf die Weite der Pfeifenmensuren (hier: Flöten etc.)
Zungenpfeifen: Der Ton wird durch Schwingungen einer Metallzunge erzeugt und durch Schallbecher verstärkt.
Hamburg St. Michaelis
107
Literaturnachweis ____________________________________________________________ Beckerath, Rudolf von: Die Orgelbaukunst aus europäischer Sicht Böcker, Martin:
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Regensburg, 2010
109
Teilnehmerliste 1.
Bäune
Bielefeld
42.
Hielscher
Bielefeld
83.
Raudzus
Bielefeld
2.
Biermann
Lübbecke
43.
Hielscher
Bielefeld
84.
Raudzus
Bielefeld
3.
Blankenstein Bielefeld
44.
Hille
Bielefeld
85.
Renzel Georgsmarienhütte
4.
Bobe
Bielefeld
45.
Hille
Bielefeld
86.
Renzel Georgsmarienhütte
5.
Bökenkamp Bielefeld
46.
Hollmann
Bielefeld
87.
Rüter
Helpup
6.
Bonk
Bielefeld
47.
Holzhey
Bielefeld
88.
Runge
Bielefeld Bielefeld
7.
Büsing
Bielefeld
48.
Imort
Bielefeld
89.
Runge
8.
Büsing
Bielefeld
49.
Kage
Bielefeld
90.
Sander
Bielefeld
9.
Busch
Bielefeld
50.
Kage
Bielefeld
91.
Schiewer
Bielefeld
10.
Därmann
Dortmund
51.
Kastrup
Bielefeld
92.
Schiewer
11.
Dietrich
Bielefeld
52.
Kespohl
Bünde
93.
Schmidt‐Braul
12.
Dinter
Rheda
53.
Kespohl
Bünde
94.
Scholl
13.
Eckardt
Bielefeld
54.
Koch
Bielefeld
95.
Schortemeier
14.
Eckardt
Bielefeld
55.
Köhr
Bielefeld
96.
Spellmeyer
Bielefeld
15.
Elges
Bielefeld
56.
Korscheid
Bielefeld
97.
Stasch
Dortmund
16.
Eyselée
Bielefeld
57.
Kralemann Bielefeld
98.
Stenner
Bielefeld
17.
Falbrede
Hannover
58.
Kramm
Bielefeld
99.
Stenner
Bielefeld
18.
Falbrede
Hannover
59.
Kranz
Hövelhof
100. Strathmann
Bielefeld
19.
Frenz
Gütersloh
60.
Kromrey
Bielefeld
20.
Fullert
Werther
61.
Kromrey
Bielefeld
Bielefeld Bielefeld
21.
Funke
Bielefeld
62.
Kühne
Bielefeld
101. Stute 102. Stute 103. Tönsgöke
Bielefeld
22.
Funke
Bielefeld
63.
Kühne
Bielefeld
104. Ubben
Bielefeld
23.
Gehring
Bielefeld
64.
Landwehrmann Bielefeld
105. Viëtor
Bielefeld
24.
Gehring
Bielefeld
65.
Landwehrmann Bielefeld
106. Viëtor
Bielefeld
25.
Germersheim Dortmund
66.
Landwehrmann Bielefeld
107. Vogt
Bielefeld
26.
Gerndt
Bielefeld
67.
Bielefeld
Gerndt
Bielefeld
109. Volkmann
Bielefeld
28.
Gnilka
Bielefeld
68. 69.
Bielefeld Bielefeld
108. Volkmann
27.
Lange Lange Leisse
Bochum
110. Vorlauf
Bielefeld
29.
Gnilka
Bielefeld
70.
Lindemann Bielefeld
111. Vorlauf
Bielefeld
30.
Grude
Bielefeld
71.
Lippke
Bielefeld
112. Vorlauf
Bielefeld
31.
Grude
Bielefeld
72.
Lippke
Bielefeld
113. Vorlauf
Bielefeld
32.
Hansen
Braunschweig
73.
Lüddecke
Wiedenbrück
114. Wagner
Gütersloh
33.
Hartmann Bielefeld
74.
Meise
Bielefeld
115. Wagner
Gütersloh
34.
Haupt Haupt
Lübbecke Lübbecke
75.
Meise
Bielefeld
116. Weckermann G‘marienhütte
76.
Müller
Gütersloh
117. Wegner
Bielefeld
Hebestreit Gütersloh
77.
Niggebrügge Steinhagen
118. Wehmann
Bielefeld
37.
Hebestreit Gütersloh
78.
Niggebrügge Steinhagen
119. Werner
Detmold
38.
Hebestreit Gütersloh
79.
Oehlmann Bielefeld
120. Wiechen
Bielefeld
39.
Held
Bielefeld
80.
Oehlmann Bielefeld
121. Wiechen
Bielefeld
40.
Heyn
Gütersloh
81.
Peterkoc
Bielefeld
122. Wiehr
Bielefeld
41.
Hielscher
Bielefeld
82.
Petri
Bielefeld
123. Woidt
Bielefeld
35. 36.
110
Bielefeld Bielefeld Bielefeld Paderborn